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Eine Art Hausschwein ... 1/2

Ein Essay im SPIEGEL 44/1995:
'Zum zweitenmal betrogen.'

Eine Analyse der ostdeutschen Befindlichkeiten, der man in weiten Teilen zustimmen kann. Generalisierend kommt der Autor zur Auffassung: Die Ostdeutschen sind durch ihre spezielle Historie geprägt und deshalb kurzfristig nicht in der Lage, sich in der westdeutsch geprägten Gegenwart zurecht zu finden, dort effektiv den Kampf ums Geld aufzunehmen und sich dieser Gesellschaft anzupassen. Sie haben deshalb in ihrer neuen deutschen Heimat nicht nur materielle und finanzielle, sondern vor allen Dingen auch psychische Probleme.

Als ich den Artikel las, hatte ich spontan den Eindruck: Ein Mensch beschreibt die Lebensweise einer speziellen Tierart, die er gut kennt, weil er sie lange genug in der freien Wildbahn beobachtet hat. Natürlich würde dieser Mensch nicht auf die Idee kommen, seine eigenen Verhaltensweisen mit denen dieser fremden Tiere zu vergleichen.

Weil der Autor nur nach Osten guckt, spielen in diesem Essay auch die Befindlichkeiten der Westdeutschen keine Rolle. Damit schreibt er aber praktisch am Thema vorbei, denn die Probleme der Ostdeutschen resultieren zum größten Teil aus der westdeutschen Lebens- und Verhaltensweise!

Die wenigen Menschen im Osten, die aktiv eine Wende wollten und sich dafür auch 1989 und danach politisch engagiert haben, hatten als Ziel nicht die westdeutsche Gesellschaft vor Augen. Wäre das so gewesen, hätten sie ja schon zu DDR Zeiten (über das Gefängnis) ausreisen können. Aber in der Wendezeit gab es die Transparente "Wir bleiben hier !"

Es ging um eine andere Gesellschaftsordnung. Diese Leute wußten, was alles faul an und in diesem Staate war. Sie wollten den Staat reformieren, waren aber durch die borniert herrschenden Greise zu ohnmächtigem Nichtstun gezwungen. In der Wende brach die DDR zusammen, erwies sich als nicht reformierbar. Jetzt hatten die ostdeutschen Reformer die Illusion, daß Deutschland durch die Wiedervereinigung ein anderes Deutschland werden würde.

 

Daß die Chance verpaßt wurde, das westdeutsche Gesellschaftssystem mit der Wiedervereinigung zu reformieren, ist eine der wesentlichen Ursachen der heutigen Befindlichkeitsstörungen der Ostdeutschen.

Es gibt keine statische Gesellschaftsordnung. Eine rigide Konsolidierungspolitik ist für jeden Staat der Anfang vom Ende. So zwingend, wie es für die DDR gewesen wäre, ist es heute für die Bundesrepublik eine existentielle Notwendigkeit, den Staat veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Wie damals in der DDR wollen heute nur wenigen diese Binsenweisheit wahr haben. Die meisten leben nach der Devise: 'Weiter so. An morgen denken wir übermorgen!' In der Bundesrepublik existieren (wie in allen EG-Staaten) massive gesellschaftspolitische Defekte, über die kaum jemand nachdenkt und an denen niemand arbeitet:

  • Es ist offensichtlich, daß die Wirtschaft nicht ausreichend innovativ und zum erforderlichen Strukturwandel nur mühsam und viel zu langsam fähig ist.
  • Auf die zunehmende Acceleration der Technik und auf globale Zivilisationsprobleme reagiert diese Gesellschaftsordnung praktisch nicht.
  • Die Verschwendung der endlichen Recourcen ist selbstverständlicher Alltag.
  • Es sind keine Bemühungen erkennbar, über Alternativen zur bestehenden Wirtschaft nachzudenken, um der strukturellen Arbeitslosigkeit die Basis zu entziehen.
  • Diese Gesellschaftsordnung hat keine soziale Vision. Geld hat alle anderen Ziele ersetzt.
  • In Religion und Moral klaffen große Widersprüche zwischen Anspruch und Realität.
  • Die Demokratie ist in überkommenen Formen erstarrt, die Mitwirkung des Einzelnen am Ganzen ist ein schönes Trugbild.
  • Die Wahrheit wurde dem Geschäft geopfert, Lüge und Betrug sind systemimmanent.

Es ist verblüffend, widersinnig und im Westen heftig bestritten, aber in der westdeutschen Gesellschaft finden die Ostdeutschen viele aus der DDR bekannten Probleme wieder. Die ungeliebte DDR und die Bundesrepublik sind durch mehr Parallelen verbunden, als es den vereinten Deutschen lieb ist.

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