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Elemente + Relationen = Struktur
Elementare Fragen nach dem Sein
   
Strukturalismus

Elemente und ihre Relationen bilden untrennbar eine Struktur. Die Funktionen von Elementen und Relationen sind nur als Bestandteil dieser Struktur zu verstehen. Die Struktur ist den Elementen und ihren Relationen übergeordnet. Die Umkehrung gilt: Es existieren weder Elemente noch Relationen für sich und ausserhalb einer Struktur.

Diese wenigen Sätze beschreiben, was und wie "die Welt zusammenhält". Ein Naturgesetz, erstmals erkannt Anfang des 20. Jahrhunderts von Ferdinand de Saussure am Beispiel der Linguistik (!). Er begründete den Strukturalismus, der heute viele Wissenschaftsbereiche (Technik-, Sozial- und Geisteswissenschaften) grundlegend beeinflusst hat. Die Systemtheorie stellt die moderne, technische Variante des Strukturalismus dar.

Das beschriebene Naturgesetz gilt aber uneingeschränkt auch noch, wenn man "Element" durch "Objekt" oder durch "Subjekt" ersetzt. Jetzt erst wird es richtig spannend, denn auch ein Mensch kann dieses Subjekt sein. Das Leben und alle kulturellen und sozialen Beziehungen (Relationen) zwischen Lebewesen gehorchen den Gesetzen von Struktur, Relationen und Elementen. Nur mit dieser systemtheoretischen Sicht sind solche Sätze zu verstehen, die von Claude Lévi-Strauss stammen: "Den Menschen gibt es nicht" und "Das Leben hat keinen Sinn." Zu solchen Überzeugungen kommt man nur, wenn man sieht, dass nicht das Individuum das Leben ausmacht, sondern die Strukturen, in die es in vielfältiger Form (Relationen) eingebunden ist.

 

 

Alltäglicher Strukturalismus

Eine Kuchengabel alleine ist ohne Sinn und Wert. Um einen Tisch decken zu können, ist ein Besteckkasten erforderlich. Auch dann aber dreht sich nicht alles um die Kuchengabel. Denn der Tisch steht in einer Wohnung, die Wohnung ist Teil eines Hauses, das in einer Strasse einer bestimmten Stadt steht und diese Stadt liegt im Ruhrgebiet usw. ... Das ist die Sicht des Strukturalismus.

Mit genau dieser Sicht kann man auf einen Menschen blicken, der sich für den Nabel der Welt und für das Ebenbild Gottes hält. Dieser Mensch ist mit seiner Sprache, seinen Überzeugungen und seinem kulturellen und sozialen Verhalten ein Produkt seiner Umgebung. Ist er in New York geboren und aufgewachsen, wird es ein völlig anderer Mensch als der sein, der in Point Barrow, Alaska, oder in Grumsin, Brandenburg, sein Leben gelebt hat.

Der Blinddarm eines bestimmten Menschen ist völlig uninteressant, solange er nicht weh tut. Der allgemeine, abstrakte Blinddarm ist nicht zu verstehen, weil er fast keinen Bezug zum Verdauungssystem und damit keinen Sinn (mehr) hat. Der Mensch lebt ohne diesen Blinddarm genau so gut oder schlecht, wie mit Blinddarm. Der Blinddarm erklärt sich erst aus der Evolutionsgeschichte des Menschen. Ameisen aber werden nie etwas über den menschlichen Blinddarm erfahren, weil er in ihrem Weltbild nicht existiert und für sie auch nicht vorstellbar ist.

Die Sprache ist ein erstaunlich gutes Beispiel für Strukturalismus, obwohl das auf den ersten Blick nicht so offensichtlich ist. Zwei Beispiele:
(1) Die Rechtschreibung ist - abgesehen von Sonderfällen - für das Textverständnis völlig ohne Belang. Sogar grammatische Fehler beeinträchtigen das Textverständnis nicht. Die Wahrnehmung ist auf die Struktur, den Inhalt des Textes, ausgerichtet. Ob an einigen Wörtern (Elementen) Rechtschreibfehler existieren, wird von unserem Wahrnehmungssystem grosszügig ignoriert.
(2) Die Verständigung in einer Fremdsprache ist bereits sehr gut möglich, wenn man nur 30 Prozent der benötigten Wörter und von der Grammatik überhaupt nichts versteht. Unser Wahrnehmungssystem ist dann in der Lage, aus einer formal sehr unvollständigen Information eine vollständige Information/Nachricht zu gewinnen: Zu den verstandenen Worten (Elementen) kommen als entscheidende Zusatzinformation der bisherige Gesprächsverlauf, alltägliche Erfahrungen und die Umgebungssituation hinzu (Relationen). Mit diesen und anderen Aspekten kann unser Wahrnehmungssystem eine (wahrscheinlich) richtige Information generieren (Struktur).
An beiden Beispielen zeigt sich sehr deutlich, wie unwesentlich grammatikalische oder Rechtschreibfehler für die sprachliche Grundverständigung sind. Ausserdem ist bei der Sprache gut zu beobachten, was generell gilt: Zwischen Struktur, Elementen und Relationen existieren qualitative Bedeutungsunterschiede - Den mit einem Text (Struktur) beschriebene Inhalt trennen beispielsweise Welten von der Bedeutung einzelner Worte (Elemente): Die Struktur ist den Elementen und Relationen deutlich übergeordnet.

Eine Druckmaschine besteht aus mehr als 20.000 Einzelteilen. Eine einzelne Kugel eines bestimmten Kugellagers ist für sich genommen zu nichts nütze. Bricht sie aber in diesem Kugellager, druckt die Maschine nicht mehr. Gerade in technischen Systemen ist der Strukturalismus offensichtlich: Die Druckmaschine (Struktur) besteht aus sehr vielen Einzelteilen (Elementen). Werden sie unter Einhaltung ganz exakter Relationen zusammengebaut, ergeben sie die komplette Druckmaschine. Die Druckmaschine und die einzelne Kugel bedingen sich absolut. Trotzdem ist die Druckmaschine entscheidend (übergeordnete Struktur) und nicht die Kugel in einem bestimmten Kugellager (Element). Diese Beziehungen sind heute so selbstverständlich, dass dazu niemand mehr Strukturalismus oder Systemtheorie sagt.

Um so erstaunlicher, dass die Zusammenhänge zwischen Struktur, Relationen und Elementen nicht im Bereich der Technik entdeckt wurden (dazu waren sie wohl zu offensichtlich!), sondern im Bereich der Linguistik! Von hier aus hat diese Sicht in den Sozial- und Geisteswissenschaften Fuss gefasst, wo sie längst nicht so offensichtlich ist, wie in technischen Systemen. Aber hier gilt sie genau so, wie in der Technik, denn für die Gesamtheit (für das System) ist unerheblich, ob ein Element ein belebtes Subjekt, oder ein unbelebtes Objekt ist. Allerdings ist hier die Interpretation schwieriger, als in den Technikwissenschaften. So ist es beispielsweise gewöhnungsbedürftig, das Unterbewusstsein des Menschen als die übergeordnete Struktur, die konkreten, subjektiven Ängste eines Menschen als Elemente und seine vielfältigen Lebensumstände als die Relationen dieser Struktur anzusehen. Aber eine solche Betrachtung ist zulässig und führt zu objektiven und nützlichen Einsichten.

 

 

Strukturalismus als Methode

Der Strukturalismus beruht auf einem Naturgesetz. Jedes Naturgesetz aber kann man auch als Methode benutzen. Ist das Naturgesetz erst einmal erkannt und akzeptiert, ist für die praktische Anwendung die auf dem Strukturalismus beruhende Analyse- und Synthesemethode von entscheidender Bedeutung.

Mit dieser Methode wird analysiert, welche Elemente zu welcher Struktur gehören und welche Relationen sie besitzen. Die umgekehrte Betrachtungsweise ist genau so möglich. Erst die übergeordnete Struktur lässt in vielen Fällen die Bedeutung und Funktion eines einzelnen Elements oder seiner Relationen erkennen. Weiss man nichts von der übergeordneten Struktur, kann man auch nichts über das Element aussagen. Ein simples Beispiel: Eine Treppe, irgendwo in der Stadt. Vögel sehen zwar diese Treppe, aber wenn sie nicht wüssten, wie Menschen diese Treppe benutzen, hätten sie keinerlei Vorstellung davon, wozu diese Treppe gut sein soll. Eine Treppe existiert in der Welt der Vögel nicht.

In allen Wissenschaftsbereichen werden heute systemwissenschaftliche Methoden angewandt. Nicht nur zur Analyse der Funktion definierter Objekte und Subjekte und deren übergeordneter Strukturen. Besonders wichtig sind diese Methoden bei der Generierung virtueller, digitaler Systeme und deren Simulation. Das hat unmittelbar praktische Auswirkungen. Beispielsweise ist von zentrierender Bedeutung, welche Elemente (Parameter) bei den Klimamodellen zur Berechnung der Erderwärmung zu berücksichtigen sind und welche Wertigkeit (Relationen) sie untereinander und im Gesamtsystem besitzen. Von solchen Fragen, die nur mit systemwissenschaftlichen Verfahren zu beantworten sind, hängt ab, welche Entscheidungen die Weltgemeinschaft in den nächsten Wochen auf der Klimakonferenz in Kopenhagen treffen soll/muss.

Aber auch grundlegende Irrtümer kann man mit dieser Methode aufdecken: Wer beispielsweise das menschliche Gehirn simulieren will (Blue Brain Projekt), die mehr als 100 Milliarden Neuronen (Elemente) unseres Gehirns nicht modellieren kann, noch viel weniger aber ihre biochemischen Relationen als Funktion der Zeit (!!) im Details kennt (und diese Komplexität nie beherrschen wird), der ist ganz einfach als Geisterfahrer auf dem Holzweg.

 

 

Die Sinnfrage

Der Strukturalismus relativiert die menschliche Existenz. Er stellt den sich sehr schnell überschätzenden Menschen in den richtigen, weil objektiven Rahmen. Verfährt man mit diesem Menschen so, wie mit der Kuchengabel, gerät man sehr schnell an die Grenzen unseres Wissens und unserer Erkenntnisfähigkeit. Wir sind zwar noch in der Lage zu erkennen, dass die Erde, auf der wir existieren, Bestandteil des Sonnensystems und unserer Galaxis ist und nach welchen Gesetzmässigkeiten sich dieses System bewegt. Dass im Universum sehr viele Galaxien existieren, haben wir inzwischen gesehen (Hubble Deep Field), aber bereits über die Struktur des Universums herrscht grosse Unklarheit (dunkle Materie/Energie). In welche Strukturen das Universum aber eingebunden ist, wird uns für immer verschlossen bleiben. Uns fehlen dabei nicht nur die Fakten, sondern hier ist eine prinzipielle Grenze für Menschen erreicht: Uns fehlt jede Vorstellung von solchen übergeordneten Strukturen. Exakt so, wie Ameisen jede Vorstellung vom menschlichen Blinddarm fehlen. Da helfen auch Spekulationen und Fiktionen nicht weiter, genau so wenig wie der dreifaltige Gott oder Allah.

Damit aber ist auch die Sinnfrage nicht zu beantworten. Wir können zwar noch nach dem Wesen und dem Sinn unseres Seins fragen, werden aber darauf nie eine Antwort erhalten. Das Leben hat keinen Sinn ... nach unserem Erkenntnisstand. Wir können/sollten unserem Leben einen Sinn geben. Aber der Sinn a priori bleibt uns immer verschlossen.

 

 

Parallelen

Karl Marx und der Dialektische Materialismus behaupteten, die Welt sei erkennbar. Das wurde postuliert, damit ein in sich schlüssiges Denkgebäude konstruiert werden konnte, das ohne Gott auskommt. Mit dem Zusammenbruch des "sozialistischen Lagers" ist auch diese Grundüberzeugung zu dem geworden, was sie immer war: Ein blosser Glaubenssatz. Die Welt ist schon deshalb nicht erkennbar, weil sie zu komplex ist. Das ist heute Konsens in den Wissenschaften. Der Strukturalismus hat schon sehr früh zu dieser Erkenntnis geführt.

Die Systematische Heuristik hantiert mit dem Begriff "Schicht". Die übereinander liegenden und miteinander verwobenen Strukturen der Systemtheorie waren der Ausgangspunkt für diesen Schichtbegriff, so wie die gesamte systemwissenschaftliche Arbeitsweise (SWAW). Es kann deshalb nicht überraschen, dass man beispielsweise in der Story Natürliche Automaten zu den gleichen Endaussagen kommt, wenn man statt von einer "Schicht" von der entsprechenden übergeordneten Struktur spricht.

In der o.g. Story "Natürliche Automaten" wurde nachgewiesen, dass man Lebewesen auch als relativ frei agierende Automaten auffassen kann. Unter strukturaler Sicht ist es unerheblich für die Struktur, ob ihre Elemente belebt sind, oder nicht. Daraus kann man zwar nicht auf Lebewesen als Automaten schliessen, aber sie wären auch kein Widerspruch für die Strukturen, in die sie eingebunden sind.

An diesen Parallelen ist zu erkennen: Es gibt nicht nur eine Sicht, eine Methode, eine einzig rechtmässige Wahrheit. Dafür ist diese Welt zu komplex. Aber es ist tröstlich, wenn man konstatieren kann, dass verschiedene Wege zur gleichen Erkenntnis führen.

 

 

Links zu Strukturalismus

uni-lexikon.de Strukturalismus

amazon.de Bücher zu Strukturalismus

spiegel.de Zum Tod von Claude Lévi-Strauss

wikipedia.de Strukturalismus

 

 

Jürgen Albrecht, 04. November 2009
update: 02.10.2011

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