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Götter und Utopien

 

Hier in Terrace leben 13.000 Menschen und man wird am Ortseingang von dreizehn verschiedenen christlichen Kirchen (Zufall!) willkommen geheissen. Der Papst ist mit seiner angeblich einzig wahren Kirche hier nicht vertreten. Zwei Tage später in Vanderhoof, höchstens 5.000 Einwohner, wieder Zufall und wieder 13 verschiedene christliche Kirchen, aber völlig andere, als in Terrace ausser einer: Seventh Day Adventist. Mit Sicherheit aber leben in diesen Orten auch Moslems, Buddhisten und Hindus, die sich wieder in viele Glaubensrichtungen aufsplittern. Viele Götter bevölkern die Erde.

Gerade hier in Alaska und Canada ist zu beobachten, dass die Menschen offenbar existentiell eine Religion benötigen. Sie brauchen Götter, eine geheimnisvolle Story und sie brauchen Riten, um ihr seelisches Gleichgewicht zu finden und täglich auszubalancieren. Dabei scheint es absolut nicht zu stören, dass jeder an einen anderen Gott und eine vielfach variierte mystische Story glaubt. Im Gegenteil. Wenn sich hier hundert Menschen auf einen Gott und einen Ritus einigen, dann scheinen sie den unbezwingbaren Drang zu haben, eine neue Kirche zu gründen.

In Europa haben die Religionen keine solche Bedeutung mehr, wie in der Neuen und in der Dritten Welt. Offenbar gibt es eine Korrelation zwischen dem Bildungsstand des einzelnen Menschen und seiner Sehnsucht nach Gott. Aber gerade auch hoch gebildete Menschen stellen existentielle Fragen und auch sie brauchen ein 'Weltbild'. Das ist nicht selten eine politische oder soziale Utopie.

Sieht man sich die Geschichte der Menschheit an, dann ist es eine Historie voller Schlachten, Kriege und Massaker. Aber nicht nur die Vergangenheit der Menschheit ist blutig und grausam, auch in der Gegenwart gibt es wesentlich mehr Länder, die von Unruhen und gewalttätigen Konflikten erschüttert werden, als friedliche Staaten. Wir haben in Mitteleuropa in dieser Hinsicht und in den letzten 55 Jahren ausgesprochenes Glück gehabt. Fragt man, warum es so viel Krieg gab und gibt, so zeigt sich, dass die meisten Konflikte religiöse oder ideologische Ursachen haben. Die wenigsten Kriege werden aus Not, aus Hunger oder aus Mangel an Lebensraum geführt. Religiöse und ideologische Intoleranz ist auch heute noch die Ursache der meisten und der grössten Konflikte auf dieser Welt.

Dabei gibt es praktisch keinen Unterschied zwischen einer Religion und einer sozialen Utopie, beide sind intolerant bis hin zum Fanatismus. Am Beispiel der DDR kann man nachweisen, dass die Bürger den gleichen Repressionen ausgesetzt sind, egal, ob sie in einem Gottesstaat oder einer ideologischen Diktatur leben. Entscheidend ist, dass das Gewalt- und Meinungsmonopol offenbar zwangsläufig zu einer repressiven Diktatur führt. Deshalb frage ich in den 'Thesen zu schwierigen Fragen': Wie sieht ein Manifest aus, das die Massen ergreift und die Religionen aus der Welt schafft, ohne eine neue zu etablieren?

 

Zwei Aspekte scheinen für das Entstehen von Religionen und sozialen Utopien verantwortlich zu sein: Erstens muss sich jeder Mensch mit der Sinnfrage auseinandersetzen und zweitens scheint unser Wahrnehmungssystem die Tendenz zu besitzen, die Wirklichkeit zu schönen und optimistisch einzufärben.

Götter, Riten und Tabus sind früheste Bestandteile der menschlichen Kultur. Gleichzeitig mit dem Bewusstsein seines individuellen Seins stellt sich jeder Mensch die Sinnfrage. Weil die Frage nach dem Sinn des Daseins bis vor wenigen Jahrhunderten nicht befriedigend mit Wissen und Erfahrung zu beantworten war, wurde diese Frage an die Götter weitergereicht und damit das existentielle Problem der Sinnfrage gelöst. Jedes Lebewesen braucht zur Orientierung ein 'Weltbild'. Leitbilder sind ein wichtiger Bestandteil dieses Bezugssystems. Götter sind, gerade weil sie real nicht existieren, hervorragende Leitbilder, denn sie liefern einfache Antworten auf schwierigste Fragen. Religionen leisten noch mehr: Es sind geschlossene, logische Systeme, sie beantworten (fast) alle auftretenden Fragen und bieten gläubigen Menschen Verhaltensregeln, Orientierung und Sicherheit. Das sind so entscheidende Werte, dass nach der Wahrheit niemand fragt. Eine böse Nebenwirkung: Menschen lassen sich über die Religion sehr einfach leiten, verführen und ausbeuten. Deshalb sind die angeblich so selbstlosen Kirchen in Deutschland die reichsten Unternehmer. Religion, Geld, Macht, Manipulation und Machtmissbrauch gehören zusammen.

Das menschliche Wahrnehmungssystem berücksichtigt offensichtlich die Sehnsucht nach einfachen Lösungen. Unser Wahrnehmungssystem bildet die Umwelt ab und präsentiert uns ein subjektives 'Weltbild'. Es ist die Basis für unsere weiteren Entscheidungen. Dieses Abbild stellt die Welt besser dar, als sie ist. Die Realität wird vereinfacht und durch Fiktionen geschönt: Das fördert Initiative und den Unternehmungsgeist und bewirkt insgesamt eine optimistische Sicht der Dinge. Es ist viel einfacher, an einen fiktiven Gott zu glauben, 'alle Sorgen auf IHN werfen' zu können und ständig getröstet zu werden, als täglich der Realität ungeschminkt ins Auge zu sehen. Deshalb ist die Identifikation mit einer Religion oft so stark, dass zwischen Glaube und Realität nicht mehr unterschieden wird. Vernunftbegabte Menschen schalten Denken und Logik ab und akzeptieren, dass es Fragen gibt, die einfach nicht mehr gestellt werden. Solche Fragen werden mit aller Konsequenz verdrängt, denn ihre wahrhaftige Beantwortung würde das ideale Gedankengebäude zum Einsturz bringen.

Das könnte eine Erklärung sein: Religionen und Utopien sind für den Fortbestand der menschlichen Art nützlicher, als die Kenntnis der oft ausweglosen, mindestens aber hoch komplizierten Realität. Was wäre die Neue und die Dritte Welt ohne Religion? Es wird also in absehbarer Zeit kein Manifest geben, das die Religionen aus der Welt schafft. Es sei denn, es könnte die Sinnfrage noch einfacher beantworten als eine Religion:

BORN TO SHOP
Vielleicht ist das die Lösung aller Fragen ?!

Plakatwand in Edmonton, CAN

Jürgen Albrecht, Edmonton, 26.06.2001 / 20.12.2001
Update 02.Juno 2002

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