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Flüchtlingselend ... Seite 5/6

Er hat immer sofort neu zu strampeln und zu ackern angefangen. Ohne viel zu diskutieren und über die Lage zu lamentieren. In der Tschechei, in Salzwedel, in Wernigerode. Er war ein Macher. Immer habe ich seinen Lebensmut bewundert.

Rückblickend kann ich mich nicht erinnern, auf der Flucht je Angst gehabt zu haben, abgesehen von dem Morgen im Wald und der Siegesfeier in Prag. Vieles habe ich nicht verstanden, aber es war interessant, es war immer was los. An die Zeit in Berunice habe ich viele sehr schöne Erinnerungen. Dafür weiss ich kaum, dass Mutter monatelang auf dem Stroh gelegen hat. Ich habe kein Trauma aus dieser Zeit zu verarbeiten. Aber diese Ereignisse haben mich unbewusst ganz wesentlich geprägt. Faschismus, Krieg, Gewalt, Militär, Fahnen, Hitlers Nationalhymne (die auch unsere heutige ist ...) und pathetische Parolen waren mir lebenslang ein Graus. Aber solche Prägungen kann man nicht an die nächsten Generationen weiterreichen. Auch nicht durch solche Berichte. Deshalb 'verlernt' der Mensch das Kriegführen offensichtlich nur auf Zeit. Dann fängt alles wieder von vorn an. Leider.

Heute ist der 19. Tag, an dem die NATO Serbien und Montenegro bombardiert. Die NATO-Aktionen sollen eine ‚humanitäre Katastrophe' verhindern. Das Gegenteil wurde erreicht: Das Bombardement hat wie eine Initialzündung gewirkt: Als ob Milosevic nur auf diesen Startschuss gewartet hätte, werden jetzt durch seine Armee und seine Milizen ganz ungeniert die Albaner aus dem Kosovo vertrieben. Mit ‚Luftschlägen' wird diese Vertreibung nicht verhindert oder aufgehalten. Dazu wären Bodentruppen erforderlich, davor aber scheuen die NATO-Partner (noch?) zurück. Vietnam hat tiefe Wirkungen sogar bei den Amerikanern hinterlassen. Obwohl Tag und Nacht Bomben, Cruise Missiles und Raketen auf ‚strategische Ziele' abgefeuert und Zerstörungen riesigen Ausmasses angerichtet werden, sorgt Milosevic dafür, dass das Kosovo ‚albanerrein' (s. judenrein) wird. 300.000 Vertriebene haben Albanien, 150.000 Mazedonien und 50.000 Montenegro bisher aufgenommen. In ca. 14 Tagen könnte das Kosovo ‚ethnisch gesäubert' sein. Dann leben dort keine Albaner mehr, ihre Häuser und Dörfer wurden zerstört, verbrannt, verwüstet. Es gibt keine offiziellen Zahlen über die Albaner,

 

die sich im Kosovo auf der Flucht vor den Serben befinden. Die Schätzungen schwanken zwischen 300.000 und einer Million Menschen. Die NATO hat die modernste Aufklärung aber auch das Aufklärungsmonopol. Es kann festgestellt werden, ob Albaner als ‚menschliche Schutzschilde' auf Panzer gebunden sind. Aber über den Aufenthaltsort hunderttausender von Menschen wird tagelang in den Medien gerätselt und es gibt auch jetzt keine Klarheit. Die NATO veröffentlicht nur das, was in ihre Sicht der Dinge passt. Flüchtlinge passen nicht in ihr Konzept, die ‚ethnische Säuberung' sollte ja gerade durch die Bombardierung verhindert werden. Wie heisst es so treffend: Als erstes bleibt im Krieg die Wahrheit auf der Strecke.

Unendlicher Hass wächst in diesen Tagen wieder zwischen Serben und Albanern. Wenn über die bornierte NATO-Politik längst Gras gewachsen sein wird, wenn alle Zerstörungen längst repariert sind, wird dieser Hass immer noch bestehen und dafür sorgen, dass beim kleinsten Anlass wieder neue Konflikte zwischen Serben und Albanern ausbrechen. Die NATO hatte von Beginn der Bombardierungen an nie auch nur den Hauch einer Chance, die Probleme des Balkans mit ‚Luftschlägen' zu lösen. Aber sie ist dabei, in das schon seit Jahrhunderten schwelende und lodernder Feuer auf dem Balkan jetzt auch noch Öl zu giessen.

Gibt es Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Flüchtlingen aus Schlesien 1945 und denen aus dem Kosovo 1999? Es gibt entsetzliche Parallelen. Vor allen Dingen ist das menschliche Elend, die Verzweiflung und die Sinnlosigkeit von Flucht und Vertreibung für die Betroffenen völlig gleich. Sie alle sind weitestgehend unschuldig an dem Unglück, was sie unvorbereitet und so unvorstellbar trifft. Weil jetzt alles das wieder passiert, was wir vor 54 Jahren erlebt haben, habe ich Schwierigkeiten, diese schrecklichen Bilder auszuhalten. Alle Erinnerungen, die verschüttet und vergessen waren, brechen wieder auf.

Damals wie heute gibt es Verantwortliche für das Geschehen. Damals wie heute behaupten sie, für eine gerechte Sache und bis zum Endsieg zu kämpfen. Sie sitzen im Trocknen und mit der ganzen Familie vor gefüllten Tellern.

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