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Flüchtlingselend ... Seite 6/6

Solange nicht der eigene Vater erschossen, die eigene Schwester verhungert sind, man nicht im Freien übernachten muss, das Gehalt weiter läuft und Immobilien und Konten ganz selbstverständlich völlig sicher sind, solange fällt es so schrecklich leicht, mit markigen Worten pathetisch vor der laufenden Kamera über Prinzipien, moralische Werte und von einer zu erfüllenden Mission zu sprechen: Der blasierte, tollpatschige Verteidigungsminister Scharping und Aussenminister Fischer, der endlich auf dem Schoss von Madelain Albright an der Macht ist und Krieg spielen darf. Brechreiz. Den Betroffenen hilft das überhaupt nicht. Im Gegenteil. Ist es nicht eine Verhöhnung der Opfer, wenn deutsche Bomberpiloten 2500 DM sammeln und dann den Scheck mediengerecht bei der Übergabe an das Rote Kreuz in die Kamera halten, bevor sie zum nächsten Einsatz wieder in ihre Kampfjets steigen? Das ist nicht nur geschmacklos, das ist die Perversion des Krieges.

Aber es gibt auch grosse Unterschiede. 1945 waren wir Flüchtlinge. Wir flüchteten vor der Sowjetarmee, die von Hitler angegriffen, jetzt zurückschlug. Unsere Flucht hatte ihre Ursache in Hitlers Rassenhass und Eroberungswahn. Der Sieg der Alliierten über Hitlerdeutschland zeigte, was von dieser Ideologie zu halten war. Trotzdem fiel es vielen Deutschen, besonders im Westen, sehr schwer, von diesem faschistischen Staat der Herrenmenschen Abschied zu nehmen. Dass sich die ehemaligen Flüchtlinge später zu Vertriebenen erklärten und heute Besitzansprüche in den ehemaligen ‚Ostgebieten' erheben zeigt, dass die faschistische Ideologie auch durch einen verlorenen Weltkriegs nicht unterzukriegen ist.

Die Albaner werden jetzt aus ihrer Heimat Kosovo mit Gewalt vertrieben. Sie sind wirklich unschuldig Vertriebene. Hinter der Vertreibung steht wieder eine Rassenideologie, diesmal die der Serben.

 

Aber so simpel wie bei Hitler ist das hier nicht. Aus Religion, Historie und ethnischer Arroganz hat sich auf dem Balkan über mehrere tausend Jahre ein hoch komplexes, konfliktträchtiges Beziehungsgeflecht entwickelt. In dieser Region gab es nie Stabilität und Milosevic macht nur das nach, was viele Herrscher des Balkans noch wesentlich grausamer vorgemacht haben. Es ist blanke Illusion, diese über einen langen Zeitraum gewachsenen Überzeugungen, Wertvorstellungen und ethnischen Gesinnungen durch einen kurzen High-Tech-Krieg aus der Luft zu verändern. Im Gegenteil, sie werden durch neu entstehenden Hass zementiert.

Wer unter solchen Umständen einen Angriffskrieg führt, tausende von Menschen tötet, hunderttausende von Vertriebenen in Kauf nimmt und die Infrastruktur eines ganzen Landes verwüstet um damit die Einhaltung fiktiver Menschenrechte zu erzwingen, handelt verantwortungslos und hat auch aus der jüngeren Geschichte nichts gelernt.

Aber genau so sind die Menschen offensichtlich strukturiert: Die gleichen simplen Prinzipien, nach denen eine Prügelei auf dem Schulhof abläuft, gelten auch bei globalen Konflikten: Wer die Macht besitzt, hat auch das Recht. Es bringt Vorteile, sich mit den Starken und den Mächtigen zu solidarisieren. Die grössten Lasten werden den Schwachen und den Machtlosen aufgebürdet. Vor allen Dingen aber bleibt immer die Vernunft und die Wahrheit auf der Strecke.

 

Jürgen Albrecht, 12. April 1999

Seit Oktober 2015 existiert ein Buch mit vier Fluchtberichten
von Reiner und Jürgen Albrecht
bei www.storyal.de ...

 

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