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Flüchtlingselend ... Seite 4/6

Nach kurzer Zeit werden wir nach Berunice auf ein grosses Landgut verlegt. Hier sind viel schlechtere Bedingungen. Die Leute, mit denen wir dort zusammen leben, gehen meinen Eltern auf die Nerven. 'In Astprreissen hatten wir einen Härrrn, jetz ham werr einen anderrn Härrrn. Die Oarrrrbeiit ist die gleiiche!' Mein Vater, der keine Ahnung von der Landwirtschaft hat, wird Chef vom Stall mit den Ochsen und den riesengrossen Bullen. Meine Mutter fällt beim Fensterputzen (man muss ja dort auch die Fenster putzen !!) so unglücklich von der Leiter, dass sie sich nicht mehr bewegen kann. Sie liegt Monate regungslos auf Stroh. Auf diese Art heilt sie einen Wirbelbruch im Rücken aus. Erst in den 80-er Jahren hat man festgestellt, dass sie sich bei diesem Sturz einen Rückenwirbel gebrochen hat. Ende des Jahres 1945 steht sie wieder auf und geht wie alle anderen Arbeiten aufs Feld.

Reiner arbeitet bei Steckly und muss nicht nur hart arbeiten, sondern auch viel Schnaps trinken. Pausenlos läuft der selbst gebaute Destillierapparat, mit dem aus Kartoffeln ein billiger Fusel gebrannt wird. Wenn ein Glas voll getropft ist, wird getrunken: Pane, Pani, Reiner. Immer schön der Reihe nach und das von morgens bis abends. Ich habe den ganzen Tag frei und mache mit gleichaltrigen deutschen und tschechischen Kindern den grössten Unsinn. Bei der Rückkehr nach Deutschland spreche ich gut tschechisch, kann aber nicht mehr lesen und schreiben. Mein Vater hat durch viel Krach mit dem Besitzer der Landgutes, Herrn Wottik erreicht, dass Familie Albrecht ein eigenes Zimmer mit einer Küche neben den Ställen bekommt. Wahrscheinlich war die darniederliegende Mutter der Hauptgrund. 'Immer der Härr Allbrächt haben Beschwärrdä und das letzt Wort! Wenn der Härr Allbrächt wieder sein werrden Buchhalter in Deitschland, wird er denken an scheene Zeit bei Wottik in die Tschechei !!' Das hat der Gutsbesitzer immer gesagt, wenn er sich mit Vater gestritten hat.

Wir blieben auf Wottiks Hof bis September 1946. Dann ging es in offenen Güterwagen zurück nach Deutschland. Unser Gepäck bestand aus einer grossen Futterkiepe voller Äpfel und aus einer aus rohen Brettern von Reiner gebaute Holzkiste. In der wurde in der Tschechei das Feuerholz vor dem Ofen aufgehoben.

 

Jetzt war sie unser Koffer. Nach mehreren Tagen Bahnfahrt wurden wir in Salzwedel ausgeladen und wieder in ein Barackenlager eingewiesen. Als erstes mussten wir dort eine Entlausung über uns ergehen lassen. Noch 1994 stand die aus Ziegeln gebaute Entlausungsbaracke hinter der Zuckerfabrik. Erst jetzt war für uns der zweite Weltkrieg zu Ende. Vier von fünf Familienmitgliedern hatten überlebt. Von der zahlreichen Verwandtschaft wussten wir nichts. In der Tschechei hatte man uns von allen Nachkriegsereignissen völlig isoliert: Keine Post, kein Radio, keine Zeitungen. Jetzt konnten wir in Deutschland mit dem Start in ein neues Leben beginnen. Aber alles war auf Null gestellt, meine Eltern mussten mit 46 Jahren noch einmal von vorne beginnen.

Meine Mutter hat mit uns drei Kindern fürchterliches durchgemacht und das auch bis ans Ende ihre Tage nicht verkraftet. Dazu kamen sicherlich Selbstvorwürfe und das Hadern mit dem Schicksal. Sie hat vor dem Krieg das Leben schon nicht leicht genommen, nach 1945 hat sie sich oft gewünscht 'in dam Pusche verreckt' zu sein. Das sagte sie oft in ihrem schlesischen Dialekt, auch noch, als alles schon viele Jahre vorbei war. Immer wenn sie das sagte, wurde mir entsetzlich flau und ich dachte schlagartig an diesen Morgen im Wald. Sie tat mir dann so leid, aber sie liess keinen an sich heran, liess sich nicht helfen. Wenn man sich vorstellt, was es bedeutet, mit 45 Jahren die gesicherte Existenz, Wohnung, Haus und alle Verwandten zu verlieren und unter Kriegsbedingungen mit drei Kindern auf die Flucht zu gehen, dann kann man vielleicht ihre lebenslange Verzweiflung verstehen. Sie war nicht depressiv, aber die Flucht und die Kriegsfolgen hatten ihre Zuversicht und Lebensfreude gebrochen.

Mein Vater hat das gleiche erlebt und es viel besser verkraftet. Er hat immer gewusst, dass er in diesem Stall in der Tschechei nicht lange arbeiten wird. Die Gewissheit der Rückkehr nach Deutschland hielt ihn aufrecht. Er versuchte, Mutter aufzurichten, aber er hatte es mit seinem Optimismus sehr schwer. Als wir einmal über das dürftige Essen maulten sagte er: 'Es wird eine Zeit in Deutschland kommen, da werdet Ihr sagen: Schon wieder Bockwurst !!' Einhelliger Protest, denn das konnten wir uns mit leerem Magen absolut nicht vorstellen.

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