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Flüchtlingselend ... Seite 3/6

Wir haben ein Bettlaken, die anderen Leute haben so etwas nicht. In der Nacht verrutscht das Laken und das Stroh piekt. Auch die vielen Flöhe beissen, das juckt schrecklich. Im Vorraum steht ein Ofen. Wenn gekocht wird, muss er mit 'Strohwickeln' geheizt werden. Von dort aus geht eine Tür auf einen ganz grossen Hof. Rund herum Scheunen, Ställe mit Kühen, Schweinen, den gefährlichen Bullen, das Wohnhaus von Wottik, zwei grosse Hoftore, die am Abend zugemacht werden. Vor Wottiks Haus ein Teich mit Weiden am Ufer. Gänse, Enten. Auf der anderen Seite ein grosser Misthaufen. Der Schweizer fährt mit einer Mistkarre den Mist aus dem Stall. Vater und Mutter gehen arbeiten auf dem Feld. Wir Kinder spielen den ganzen Tag. Hunger haben wir nicht mehr.

Reiner und ich sollen bei einem Bauern im Dorf arbeiten. Der Bauer Steckly ist alt und freundlich, er redet deutsch, es hört sich aber seltsam an. Seine Frau ist noch älter, sie läuft gebückt. Wenn sie spricht, kann man sie nicht verstehen. Deutsch kann sie nicht. Ich soll die Schafe in den Hof treiben. Ich habe Angst, traue mich nicht an die Schafe ran. Nach mehreren Versuche sagt Steckly: 'Reiner kann ich gebrauchen, aber der Jürgen, därr ist zu bläddd!' Ich bin nicht blöd. Unerhört. Dieser blöde Bauer. Und dann diese riesigen, gefährlichen Schafe! Ausserdem will ich überhaupt nicht arbeiten! Reiner bleibt bei Steckly, ich werde zu meinen Eltern auf Wottiks Hof zurück geschickt: Anderthalb Jahre Ferien.

Das sind die Erinnerungsfetzen, die ich sofort in meinem Gehirn wiederfinde, wenn ich mich an unsere Flucht vor 54 Jahren erinnere. Es sind ganz klare Bilder, die ich nicht vergessen werde. Seltsam ist, dass ich beim Aufschreiben ohne es zu merken langsam wieder in die Sprache eines neunjährigen Kindes gefallen bin. In der Erinnerung sind offensichtlich nicht nur Bilder, sondern auch Töne, Geräusche, die Art zu Sprechen und die dazugehörigen Denkweise gespeichert.

Als Mutter 1986 starb, tauchte ein kleines Notizbuch von 1945 auf. Roter Leineneinband, durchgeweicht, vergilbtes Papier: 'Altpapier bringt Neupapier! Kleeblatt Kalender für 1945'. Mit Bleistift hat Gerd - oder ich ? - in diesem Kalender Eisenbahnen gemalt, unter dem 21. Februar habe wahrscheinlich ich 'Geburtstag Jürgen' hingeschrieben.

 

Mein Vater hat wenige, sehr knappe Eintragungen gemacht. Daraus und aus Gesprächen mit meinen Eltern und mit Reiner lässt sich rekonstruieren, was damals geschah:

Der Unternehmer Fiebig (Stahlbau, Waldenburg), bei dem mein Vater Prokurist als Prokurist arbeitete, hatte die Flucht und die Fluchtautos organisiert. Am 7. Mai 1945 ging es nach Südwesten, um den Russen zu entkommen. Wir wollten zu den Amerikanern. Unterwegs wurden wir mehrfach angehalten. Bei so einer Gelegenheit wurde ein Mann aus unserem Fahrzeug geholt und erschossen, weil er einen schwarzen SS-Mantel anhatte. Schliesslich wurden wir von Tschechen gefangen genommen. Nachdem wir die Fahrzeuge und unser ganzes Gepäck verloren hatten, unternahmen die Eltern einen Selbstmordversuch mit der ganzen Familie. Die Lage war für sie aussichtslos. Ich denke, es war in der Nähe des Sportplatzes von Brandeis am Morgen des 11. Mai oder einen Tag früher. Eine Krankenschwester hatte meiner Mutter erzählt, dass das mit Rasierklingen ganz einfach und schnell geht. Meine Eltern brachten es aber nicht übers Herz, tief genug zu schneiden. Keiner wurde ernsthaft verletzt. Aber alle haben lebenslang die Narben und das Problem, die Fragen der Kinder und Enkel danach zu beantworten.

Dann wurden wir in einem Barackenlager in Prag, Stadtteil Hagibor, interniert. Wahrscheinlich fand dort am Wochenende des 12./13. Mai eine Siegesfeier statt, zu der die Gefangenen wie bei den Römern und schon viel früher auch, durch die Strassen der siegreichen Stadt getrieben wurden. In Hagibor haben wir knapp 4 Wochen entsetzlich gehungert. Wir hatten nichts mehr, als das, was wir am Leibe trugen. Von dem vielen Gepäck war nur ein Rucksack übrig geblieben, in dem solche wichtigen Dinge wie unsere drei Teddybären waren.

Abgemagert und ausgehungert wurden wir dann als Zwangsarbeiter aufs Land gebracht. Wir landeten 100 Kilometer östlich von Prag, in Slibowicz. Dort bekamen wir das erste mal wieder richtig zu essen. Das kostete meinem kleinen Bruder das Leben. Aber keiner weiss genau, was man mit ihm im Krankenhaus in Mestec Kralove (Königstädtel) gemacht hat. Er wird in Königstädtel beerdigt, nur meine Eltern waren dabei. Aber 1966 habe ich dort sein Grab wiedergefunden.

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