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Flüchtlingselend ... Seite 2/6

'Nein, wozu doch Menschen fähig sind!' Ich werde hoch gerissen, darf nicht mehr schlafen. Alle müssen aufstehen. Sachen mitnehmen, laufen. Lange laufen. Dann eine Schwester, weisser Kittel. Sie wäscht die Wunden ab, verbindet sie mit Papierbinden. Grosse rote Blutflecken auf Löschpapier.

Wir laufen lange. Rucksack auf dem Rücken. Viele Menschen überall. Ein Sportplatz. Uns kommt eine Frau mit einem Kinderwagen entgegen. Auf dem Wagen unsere braune 'Häckeldecke'! Ich greife mir die blutige Decke. 'Das ist unsere Decke!!' 'Ja, ich verstehe.' sagt die Frau. 'Mutter, ich hab' unsere Decke wieder!' 'Ja?!' Die Papierbinden an meinen Armen flattern, am Hals scheuert das Papier. Auf dem Sportplatz machen wir Pause. Wir können uns ausruhen.

Es ist dunkel. Feuerwerk. Hohe Häuser einer schmalen Strasse, eine grosse Stadt. Wir laufen auf Kopfsteinpflaster leicht bergab. An beiden Seiten der Strasse johlende und winkende Menschen. Leuchtraketen, ein unbeschreiblicher Krach. Mutter hat mich an der Hand. Sie weint laut, zieht mich mit. Vor und hinter uns viele Menschen, alle mit Gepäck und Kindern. Vom Bürgersteig kommen Leute in den Zug der Flüchtlinge. Eine Frau wird geschlagen, sie will ihren Rucksack nicht hergeben. Er wird ihr weggerissen. Ich habe Gott sei Dank keinen Rucksack mehr. Aber es ist ein schreckliches Getümmel und Gedränge. Alle schreien durcheinander. Immer wieder Feuerwerk am dunklen Himmel. Und so wie vielen Leute stehen an der Strasse und lachen!

Das Barackenlager heisst Hagibor. Und die grosse Stadt ist Prag. Mutter weint viel. Vater ist wie immer. Wir Kinder spielen vor den Baracken. Ich habe was aus Eisen gefunden mit vier dicken Rädern. Damit spiele ich 'Panzer und Panzersperre'. Wir haben immer Hunger. Einmal am Tag gibt es Suppe. Ich darf auch mal den Topf mit der Suppe tragen: 'Sei vorsichtig !!' Der Topf ist sehr voll und heiss, aber man kann durch die Suppe bis auf den Topfboden sehen. Ein paar Stückchen Kartoffeln schwimmen in der Brühe und Fettaugen gibt es auch. Ich versuche, nichts auszuschütten.

 

In der Baracke entdecke ich eine Frau, die eine Heizplatte hat. Eine Spirale in einer Keramikplatte wird glühend rot, wenn sie den Stecker in eine Steckdose steckt, die es dort an einer Holzstütze gibt. Auf der Platte röstet sie Brot. Aber sie röstet nur, wenn man ihr was von dem Brot abgibt. Und auf das dunkle, geröstete Brot mit dem Muster der Spiralen streut sie dann noch etwas ganz grobes Salz. Wie das schmeckt! Mutter geht arbeiten in der Stadt, Fensterputzen und Aufwischen. Am Abend kommt sie zurück. Einmal weint sie ganz schrecklich, als sie zurück kommt. Wir alle trösten sie, aber sie kann sich nicht beruhigen. 'Wär'n wir doch bloss in dam Pusche da verreckt!'

Wir sitzen auf Leiterwagen. Davor Pferde. Ein Dorf. Ein grosser Bauernhof, rund herum grosse Gebäude. Es ist Mittag, die Sonne scheint. Wir steigen aus. Ein Schwein wurde geschlachtet, Schlachtfest. Eine Suppentasse. Ganz heisse Suppe. Dicke, goldene Fettaugen und grüne Kräuter oben drauf. Wie das riecht und wie das schmeckt! Ich spiele mit Reiner und Gerd in der grossen Scheune. Wir klettern ganz hoch unter das Dach und springen in das Heu runter. Auf einem anderen Dachboden liegt so viel Geld! 'Lass' es liegen', sagt mein Vater, 'es ist nichts mehr wert.' Hinter dem Hof, weite gelbe Felder. Ich finde einen Metallstab mit einem Schlüsselring. Ich drehe den Ring ab. Plötzlich fliegt eine Rakete von mir weg in die Felder, dicht an Reiners Kopf vorbei.

Unser Vater kommt nicht wieder. Wir warten den ganzen Tag. Als er am frühen Abend kommt, hat er so viele Blumen auf den Feldern gepflückt, wie man mit zwei Armen tragen kann. Gerd musste ins Krankenhaus, er hatte Bauchschmerzen von der Suppe beim Schlachtfest. Vater und Mutter wollten ihn besuchen. Sie durften ihn nicht sehen, es ging ihm zu schlecht. Jetzt ist er gestorben. Was heisst das: Beerdigung? Mutter weint, Vater ist weg, endlich kommt er mit den vielen Blumen wieder.

Die Leute sind freundlich zu uns. Aber wir können hier nicht bleiben. Wir müssen auf einen anderen Bauernhof fahren. Mit zwanzig anderen Leuten schlafen wir dort in einem Zimmer auf Stroh.

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