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Eine Nacht voller Licht und Farbe 3/4


2.500 Kilometer gerade aus, dort liegt die Hudson Bay

Überleben in der Tundra ?
Ganz eigenartige Gedanken kamen mir in dieser Nacht und am Morgen: Gestern lief ein Fuchs um mein Haus, als ich vom Bett aus noch den Sonnenaufgang betrachtete. Der Fuchs war nicht gross und erst recht nicht fett. Sicher hatte er Hunger. Sein buschiger Schwanz war unnatürlich steif nach hinten gerichtet, so als ob er gar nicht zu diesem Fuchs gehörte. 'Dieser Fuchs hat nichts ausser seinem Leben.' ging es mir durch den Kopf. 'Kein einziges Werkzeug, kein Wasser, keine gekühlten Vorräte. Ein Haus wird er irgendwo unter der Erde haben, aber es hat keine Heizung. Wie unendlich gross ist der Unterschied zwischen dem Überlebenskampf dieses Fuchses und meinem komfortablen Dasein!?'

Was würde passieren, wenn ich mich hier und jetzt von meinem Haus mit Rädern verabschiede, es hier stehen lasse und einfach geradeaus laufe? Erst nach 650 Kilometer würde ich in Richtung Norden die Prodhoe Bay am Nordpolarmeer erreichen. 2.500 Kilometer nach Osten bis zur Hudson Bay am Atlantik. 1150 Kilometer müsste ich nach Westen laufen, um die Beringstrasse zu erreichen.

In dieser Gegend existieren nur drei Strassen. Die nach Eagle ist sogar am Yukon schon wieder zu Ende. Eine Sackgasse. Schon hier oben, in einer Höhe von höchstens 900 Metern, bin ich über der Baumgrenze. Weiter unten für verweichlichte Stadtmenschen undurchdringliche Wildnis. Überall Tundra, flache Gebirge, mindestens neun Monate Frost, lebensfeindliche Wildnis ohne Strassen, fast keine menschlichen Ansiedlungen.

Wasser wäre kein Problem. Würde ich etwas zum Essen finden? Wäre ich in der Lage, mir ohne jedes Werkzeug eine Hütte und Jagdwaffen zu bauen?

 

Was, wenn meine Kleidung verschlissen ist, mir meine schönen Sandalen von den nackten Füssen fallen? Wie lange würde ich überleben? Den kurzen Sommer mit Sicherheit, aber könnte ich den Winter am Polarkreis überstehen, wenn ich nicht mehr hätte, als mein Leben? Sehr zweifelhaft.

Wenn man mein leeres Auto findet, wird man in der unmittelbaren Umgebung nach mir suchen. Aber schon nach zwei Stunden wird man die Suche aufgeben. Eine Vermisstenanzeige wird in eine Schreibmaschine getippt. Das war's. Wie will man ein Gebiet von der Grösse Mitteleuropas absuchen? Auch wenn man den Willen hätte, mich zu suchen, es ist einfach technisch unmöglich. Aussichtslos.

Wen würde interessieren, dass Al verschollen ist? Wer würde sich Gedanken um sein Leben, sein Schicksal machen? Ganz wenige Menschen und auch die würden nur für kurze Zeit an diese interessante und letzte Story von Al denken ...! Dann hat die Natur alle Informationen über Al gelöscht. Für immer. Und genau das passiert auch, wenn man ganz normal in Berlin, Birklar oder Point Barrow lebt und irgendwann ins Grass beisst. Man kann in der Natur keine Spuren hinterlassen.

Ein interessantes Gedankenexperiment. Ich werde es nicht in die Tat umsetzen. Dazu ist mir meine komfortable Mobilität, die Heizung, mein warmes Bett und der gefüllte Kühlschrank viel zu angenehm. Jetzt werde ich hier oben erst mal einen ausführlichen Spaziergang machen. Nach Suppe und Mittagsschlaf fahre ich weiter ... der Tag ist endlos lang und man braucht sich in den Weissen Nächten nicht mehr an das übliche Zeitregime zu halten. Aber das birgt offenbar auch Gefahren: Man hebt ab, die Psyche hat keine feste Bodenhaftung mehr. Faszinierend, das zu erleben!

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