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ANKUNFT
IM CHAOS VON HANOI

03. Februar 1997, Montag, Hanoi

 

In Bangkok umfängt uns beim ersten Schritt auf der Gangway die tropisch feuchte und warme Luft mit dem Geruch nach Moder und Fäulnis - 100 % Luftfeuchtigkeit, aber Gott sei Dank nur 24 Grad. Wir haben noch drei Stunden Zeit bis zum Start nach Hanoi. An der Bar ein Stück Kuchen und eine Mini-Büchse Tomatensaft für 5 Dollar! Wahnsinn! Eine ganze Ladung Menschen wird in einen Airbus A 300 verladen, er ist ausgebucht: Alle wollen nach Hanoi! Müde, Essen, Formulare ausfüllen (meine Lieblingsbeschäftigung!), Schlafen, aber nur kurz, denn die Flugzeit beträgt nur 75 Minuten.

Wir schlingern durch bodenlose Wolken, aber dann setzen wir sanft nach einem unruhigen Flug auf. Das hier also ist Vietnam: Flach, neblig, Reisfelder, keine Bäume, Menschen mit spitzen Hüten. Schon vom Fenster der Maschine aus sehen wir die Ärmlichkeit des Flughafengebäudes. Der A300 nimmt sich vor der Empfangshalle wie ein viel zu groß geratener Brummer aus, er paßt nicht in diese Umgebung. Aussteigen, langes Warten vor der Paßkontrolle. Unser Gepäck ist vollständig gelandet, auch Scharnos beide schweren Koffer: Übergepäck für 850 DM!! Vor dem Gebäude, durch Gitter abgesperrt, die Menschen, die auf ihre Gäste warten.

Mr. Van sieht uns, wir erkennen uns auf lange Distanz wieder. Begrüßung von Van und Onkel Ho, der auch wie Onkel Ho aussieht. Gepäck und vier Mann zu dem Fahrer in ein klappriges Auto: Der Wagen der Hochschule. Eine schnurgerade Straße mit preußisch aufgereihten, hohen Straßenlampen. Der Fahrer gibt Gas, versucht 100 km/h aus dem Motor zu holen. Kaum Verkehr. Reisfelder, Wasserbüffel, Wasser schöpfende Menschen mit spitzen Hüten auf dem Feld, Träger mit Stange und zwei Körben, Feldarbeit. Die Klischees von Vietnam, in der ersten Stunde schon sind sie zu sehen. Die ersten Häuser, zweistöckig, neu, Phantasie-Architektur. Offensichtlich gibt es hier keine staatliche Bauaufsicht.

Die Häuser werden enger und höher. Es wir viel neu gebaut. Die Zahl der Mopedfahrer nimmt beängstigend zu und das wichtigste am Auto ist die Hupe. Wir fahren mit 60 bis 80 km/h durch das blanke Verkehrschaos! Fahrräder, Dreiräder, Mopeds, Autos, alles fahren so schnell, wie es geht und alle fahren links im Rechtsverkehr, weil jeder jeden überholen will. Ein Wunder, daß es nicht ständig zum Crash kommt, denn auch an großen Kreuzungen sind kein Verkehrssystem und keine Regeln zu erkennen, nach denen man hier fährt: Immer drauf, immer so schnell wie möglich, immer ICH KOMME JETZT: Huuuuupen !! So etwas Chaotisch-Gefährliches habe ich noch nie erlebt! Das ist normal hier, das ist nicht die Rush Hour, nicht eine Spezialität des TET-Festes oder eine sich in panischer Flucht befindliche, kopflose, motorisierte Menschenmenge. Van sagt, das ist der ganz normale Verkehr in Hanoi zu einer ganz normalen Zeit. Aber es ist der blanke Wahnsinn. So, als ob man Kinder auf Mopeds und in Autos setzt und ihnen nur zeigt, wo das Gaspedal ist.

'Erst essen wir eine 'Pho', dann gehen wir ins Hotel' sagt Van. Wir halten vor einem Lokal in der Nähe des Hotels, die eine Hälfte der vierspurigen Straße ist aufgerissen, die Häuser auf beiden Strassenseiten chaotisch im Bau. Eine Schaufensterpuppe in Rot steht in der Pose der Freiheitsstatue mitten in diesem Gewühl. Überall wird hier gleichzeitig ab- und aufgerissen und auch wieder aufgebaut. So muß es vor 100 Jahren am Clondyke zugegangen sein. Unbeschreiblich. Das kann man nur filmen. Scharno hat eine Videokamera und hat schon aus dem fahrenden Auto heraus Aufnahmen gemacht. Es ist wie in einem überdrehten Slap-Stick-Film: Action Totale, immer gerade noch ohne den großen Crash!

Die Suppe (Pho) ist sehr gut, sie kostet ½ Dollar und ist ein vollwertiges Mittagessen. Erste Verständigung mit Van. Alles läuft über ihn: Er kann sehr gut Deutsch, Ho spricht kein Deutsch, kein English. Das TET-Fest ist wichtig. Bei Neumond beginnt ein neues Jahr für die Vietnamesen. Erst wird gefeiert und gegessen, dann (nach 14 Tagen) haben Scharno und ich je 60 Studenten zu versorgen. Nach der Suppe nehmen wir im Nebenhaus einen Tee. Saubere Menschen in chaotischer Umgebung ohne jede Hygiene. Nirgends in Sumatra sieht es so aus wie hier, mitten in Hanoi: Eine faszinierende Kombination von Ur- und Neuzeit. Archaisches neben der Technik des 21. Jahrhunderts. Eine irre Mischung. So hätte der 'Große Sprung' von Mao aussehen können, er sah nicht so aus, weil der Dollar nicht mit im Spiel war. Das zu analysieren und zu beschreiben, was hier explosionsartig abläuft, wäre alleine viele Seite wert (und nötig).

Trotz permanentem Verkehrschaos erreichen wir unser Hotel ELEGANT III. Scharno wohnt im Zimmer 102, ich in 105. Fensterlose Zimmer, aber das ist der einzigste Nachteil. Klima, Telefon, english an der Rezeption, zwei große Betten, Badewanne, Kühlschrank, TV, geschnitzte Möbel, europäisch, geschmackvoll, groß. Koffer und Kisten kommen nach oben. Verabredung für 19:30. Dann falle ich (nach der Dusche mit warmem Wasser) ins Bett. Es ist fast genau 15 Uhr und ich schlafe herrlich drei Stunden.

Danach gehe ich das erste Mal für eine halbe Stunde alleine in Hanoi spazieren. Im Erdgeschoß aller Gebäude ist immer ein Geschäft untergebracht. Von Textil bis gebratene Enten gibt es hier alles auf der Straße. Jetzt um 19 Uhr ist Hauptgeschäftszeit, Essenszeit. Grelle, nackte Glühbirnen, viele Menschen, schreckliche hygienische Verhältnisse. Ich denke an die schöne Stadt Penang (George Town) in Malaysia. Hier muß man genau hinsehen, wo man seinen Fuß hinsetzt und wo man etwas zum Essen kauft. Kein Vergleich mit dem Night Market von Penang. Verkehr, Chaos auf allen Straßen. Die Straße zu überqueren ist lebensgefährlich. Wenn man beobachtet, wie andere das machen, steht man kurz vor dem Herzinfarkt. Wilde Architektur, Wildwuchs, alles ist möglich.

Der erste Eindruck: Hier findet eine gesellschaftliche Explosion statt. Sturzflug nach oben in eine vermeintlich bessere, neue Zeit!

Van holt uns gegen 19:30 ab. Er wohnt ein paar Ecken weiter in einem alten, mehrstöckigen Haus. Seine Mutter (83) begrüßt uns, sie ist körperlich und geistig noch fit. Eine nette Familie. Die Tochter Lan (23) spricht schon etwas Deutsch, der Sohn (19) noch nicht. Wir machen Strategie für die nächsten 14 Tage. In der Hochschule ist nichts los, die Studenten haben TET-Ferien. Wir müssen Urlaub machen und auf Reisen gehen, meint Van. Erst am 17. Februar kommen die Studenten wieder! Gegen 22:45 verabschieden wir uns. Die Straßen sind jetzt deutlich weniger belebt als vor drei Stunden. Aber die wenigen, die jetzt noch mit dem Moped unterwegs sind, fahren wie verrückt.

 

29. August 2002

 

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