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BESUCH IM
LITERATURTEMPEL

23. Februar 1997, Sonntag, Hanoi

 

Die erste Nacht im Orient Hotel. Gut geschlafen. Kein Krach, keine Mücken, gute Luft und hell am Morgen. Das Hotel ist wirklich schön. Vor allen Dingen kommt hier Licht durch die Fenster und man kann auf den Balkon hinaustreten, vor dem sich direkt der See zum Fernsehturm hin ausbreitet.

Frühstück um 8 Uhr mit Scharno. Es ist reichlich und man kann aus einer guten Karte wählen. Hotel with breakfast inclusive. Wir nehmen uns eine Stunde Zeit und es gelingt uns sogar zeitweise, den Ton des ständig laufenden Fernsehers abzudrehen, aus dem auf allen Kanälen indische Märchen plärren.

Nach dem Frühstück gehe ich spazieren. Ich will zum Literaturtempel. Eine Sehenswürdigkeit, das älteste, noch erhaltene Architekturdenkmal von Hanoi. Der Tempel wurde als Universität 1070 gegründet und Konfuzius gewidmet.

Ich laufe durch lange Straßen. Heute ist Sonntag, aber das Leben läuft so geschäftig weiter, wie an jedem Tag. Fast alle Läden haben auf. In dieser Gegend ist offensichtlich der Baumarkt zu Hause. Alles, was man zum Bauen braucht, kann man hier haben, von Kacheln über Armaturen und Leitungen bis zu Pumpen und Spannungskonstanthaltern. Viel Krach, viele Mopeds, viel Staub, viele Leute, viele Kinder, die ‚Hello' sagen können. Und überall kleine Garküchen, wo Tee und Essen angeboten wird.

Nach einer halben Stunde erreiche ich den Tempel VAN MIEV. Würde nicht jenseits der hohen Mauern der Verkehr brausen, wäre es eine wirklich schöne, ruhige und harmonische Anlage. Alte Bäume, Seerosenteiche, geschwungene Dächer, gerade Wege, Sichtachsen. Stelen, die auf Schildkröten stehen, für die berühmten Männer (und Frauen ?) der Wissenschaft Vietnams. Schöne Ausblicke. Nur die Ruhe von Tu Duc fehlt. Es werden immer mehr Besucher, um 9:30 war es noch relativ leer.

Aber auch hier hat die Marktwirtschaft Einzug gehalten: Am Eingang sind zuerst 12.000 Dong zu bezahlen. Im hintersten (schönsten) Hof eine in Rot und Gold renovierte Pagode mit dem Standbild des Konfuzius. Weihrauchstäbchen, betende Menschen. Im Haus davor eine Bildergalerie und, abgetrennt durch Bambuswände: Vietnamesische Volksmusik. Es hört sich fremd aber gut an.

Als ich auftauche (Langnase !) kommen gleich zwei traditionell gekleidete Damen auf mich zu und wollen mir Kassetten oder CD's ihrer Musik verkaufen. ‚Danke, ich will nur sehen und hören, nicht aber kaufen!' Ich setze mich auf einen der 25 Stühle und bin einer der wenigen Zuhörer des Ensembles. Das Orchester vergrößert sich. Zupfinstrumente, Trommeln, verschiedene Xylophone aus Bambus und dazu singt ein Mädchen mit sehr hoher Stimme. Zum Schluß des Liedes setzt sie mir Ihren großen Hut auf den Kopf. Es war wohl ein Liebeslied. Eine Weile ist das interessant und angenehm, ich mache ein paar Fotos, dann gehe ich wieder. Ich bin noch keine 20 Schritte weg, da holt mich eine der Damen wieder ein: ‚Do You like this music?' fragt sie mich mit strenger Miene. ‚Yes, it was very interesting!' versuche ich sie zu beruhigen. ‚Three Dollar, Sir!!' sagt sie jetzt vorwurfsvoll und unnachgiebig. Ich lache sie an, gebe ihr drei Dollar und sie lächelt auch wieder vorsichtig und verunsichert zurück. Auch im Souvenirshop ist man auf Ausländer geeicht. AMEX und VISA werden akzeptiert, aber hier hat man nur das, was man überall bekommt.

Versunken stehe ich eine Weile an einem der Seerosenteiche und bewundere das Bild, das sich hier bietet. Ich suche die Ruhe, die es hier nicht gibt. Da sprechen mich zwei Mädchen an (18 und 22 Jahre): Es sind Lehrer-Studentinnen, sie studieren English und jetzt wollen sie ihre Sprachkenntnisse trainieren. Die ältere spricht wirklich gut English, sie freut sich, daß wir ins Gespräch kommen. Wir diskutieren darüber, daß alle Vietnamesen so jung aussehen und nicht so fett wie die meisten Amerikaner sind, daß English zu sprechen in Zukunft sehr wichtig in Vietnam sein wird und wie wir in Deutschland leben. Daß ich kein Tourist bin, sondern hier auch arbeite, freut die beiden besonders. Das kommt hier noch nicht so oft vor. Bald verabschieden sie sich wieder mit artigen, englischen Floskeln und ich bewundere wieder die rosa Seerosen.

Auf dem Rückweg mache ich (ohne Stadtplan) einen großen Bogen und laufe durch Straßen, in denen viele Geschäfte auf sind. Dann stoße ich auf die Straße ??, sie wird gerade durch eine zweite Spur verbreitert. Von Bulldozern und Straßenbaumaschinen wird brutal eine Schneise durch ein mit den typischen 3-Meter-Häusern bebautes Gebiet geschlagen. Hanoi im Aufbruch. Ich mache ein paar Fotos. Sollte ich jemals wieder nach Hanoi kommen, so wird es hier völlig anders aussehen.

Auf der fertigen Straßenseite ein Antik-Laden. Sehr ruhig. Ein sehr schönes Mädchen mit einem klaren, hellen Gesicht, schwarze Augen und schwarze, volle, glänzende Haare. Ein rotes Tuch im Haar, schwarzer Strick-Pullover: Die Tochter des nicht anwesenden Besitzers dieses Geschäfts. Ich darf mir alles in Ruhe ansehen. Viel altes Porzellan, Bilder, Tuschezeichnungen. Armbrust-Waffen, wie sie in Mai Chau als Souvenir angeboten wurden, hier gibt es sie im Original. Eine alte Glocke - ich bleibe stark...! Antike Glocken, offensichtlich ausgegraben oder aus dem Wasser geholt, Messing, tütenförmig, stark angegangen. Ich frage, es sind indische Tempelglocken, ca. 800 Jahre alt. Ein sehr schönes, ruhiges Geschäft.

Ich verabschiede mich und gehe eine Straße nach links, so komme ich wieder in die Gegend unseres Hotels. Weil ich keine Dong mehr hatte, konnte ich mir unterwegs keine Pho mehr kaufen. An der Rezeption das schönste der Mädchen dieses Hotels. Sie sieht aus wie eine Thailänderin. Sehr jung, sehr schüchtern, etwas unsicher, aber freundlich und leicht zum Lächeln zu bringen. Bei ihr tausche ich Dollar in Dong. Ich habe aber keine Lust, noch einmal auf die Straße zu gehen. ‚Ist das Hotelrestaurant offen?' ‚Ja, natürlich ist es offen, Sie können dort essen.' Ich gehe rüber, Speisekarte, lesen, wählen. Ich werde gefragt, ob ich hier essen möchte oder das Essen auf meinem Zimmer serviert werden soll. So ein Komfort! Aber wenn schon, dann Zimmerservice.

Ich warte, es dauert, es dauert lange. Eigentlich wollte ich schon längst im Bett liegen. Aber dann kommt eine freundliche Dame und serviert mir ‚Saigon Spring Rolls'. 20 Frühlingsröllchen, jede einzelne so groß wie mein Daumen. Sie sind kochend heiß und schmecken herrlich, aber ich kann höchstens 12 von diesen Röllchen essen. Es ist zu viel und dieses Gericht kostet zwei Dollar. Draußen auf der Straße hätte es nur einen Dollar gekostet. Aber eine Mango, egal, ob groß, klein, grün oder gelb, gut oder schlecht: jede Mango kostet drei Dollar! Unbegreiflich. Wir haben gestern Abend bei verschiedenen Händlern gefragt: Alle hatten den gleichen Preis. Warum? Die Mangos wachsen in Vietnam!

Dann lege ich mich zu einem Mittagsschlaf erst mal ins Bett - schließlich ist heute Sonntag. Ich kann aber nur eine knappe Stunde schlafen. Die Tür zum Balkon ist offen, ganz selten bricht sogar mal ein Sonnenstrahl durch die dichte Wolkendecke. Es ist Ruhe bis auf Baugeräusche von den Nachbarhäusern. Sie sind aber so weit weg, daß es auszuhalten ist. Außerdem arbeitet hier Gott sei Dank niemand am Abend oder etwa in der Nacht!

Anschließend gehe ich noch einmal spazieren. Ich mache eine große Runde um den Teich vor meinem Hotel. Vorbei an einem entsetzlich vermüllten Fluß und dem TV-Zentrum, besichtige ich erst mal die Golf- Anlage. Hier kann man in zwei Etagen Golfbälle in die Weite und Höhe schlagen: Aus meiner Sicht: Stumpfsinn. Aber man bewegt sich kräftig dabei, das ist der einzige Vorteil, den ich sehe. Das Ganze ist mit einem weit sichtbaren Netz überspannt, das an Stahlgittermasten befestigt ist. Geschmacklos und auffällig.

Direkt daneben der sozialistische Slum von Hanoi in zehngeschossigen Plattenbauten. Das sieht schon von außen trostlos und völlig überfüllt aus. Feuchtigkeit und Wärme lassen überall Moos und Flechten wachsen. Mitten durch diese Siedlung läuft der kleine, vermüllte Fluß als stinkende Kloake. Auch so kann das Wohnungsproblem gelöst werden - allerdings nur auf Zeit. Ich möchte nicht wissen, wie es in den Häusern aussieht und in welchem Zustand sich diese Bauten befinden: Wasser, Abwasser, Heizung, Elektro, Fenster …?!

Ich lande wieder in der Straße, in der wir gestern gegessen haben. In der Verlängerung kommt man direkt zur Hochschule. Hier sind die Tischler, die Möbelhersteller und die Möbelhändler zu Hause, während in der Nähe der Hochschule mit Stahl und Eisen gehandelt wird. Ich finde einen Papierladen und kaufe Büromaterial. Jetzt kann ich Ordnung in meine Unterlagen bringen: Zwei hervorragende Mappen mit Klarsichthüllen!

Gegen 20:15 gehe ich nach unten, um am Computer der Rezeption meinen Lehrplan in die richtige Form zu bringen. Eine freundliche Dame, sie hat von 1988 bis 1991 im Synthesewerk Schwarzheide von Cottbus gearbeitet (!!), und ein Mann freuen sich über die Abwechslung. Der Computer läuft, aber irgendwas stimmt hier nicht: Kein Programm ist zu starten. Ich gucke mir die Festplatte an: Bis an den Stehkragen ist alles vollgepackt, nicht ein Byte ist mehr frei! Nach gründlicher Prüfung lösche ich 13 MB Schrott. Dann läuft der Rechner wieder. Nur ein kleines Progrämmchen habe ich übersehen: ABC, das Programm zur Umschaltung von der englischen auf die vietnamesische Schrift, wurde gelöscht. Kein Problem: Morgen bringe ich es von der Hochschule wieder mit.

Ich bastle meine Tabelle, gleichzeitig erzählt mir Lu (in Wirklichkeit hat sie einen schwierigen vietnamesischen Namen) von ihrem ersten Freund in Deutschland. Ihr zweiter ist ein Vietnamese und ihr Boyfriend. Leider wohnt er aber in Saigon - zu weit weg, um als Boyfriend zur Wirkung zu kommen. Zarte Andeutungen, was hier alles möglich ist. Lu bewundert, was man alles mit WinWord machen kann. Solche Tabellen werden hier nur mit EXEL erstellt. Sie erzählt viel (in English), freut sich, daß sie nicht mehr in Deutschland ist und will von mir unterrichtet werden ... in WinWord. Um 22 Uhr bin ich mit meiner Tabelle trotz der ständigen Erzählungen tatsächlich noch fertig geworden und Lu hat Feierabend: ‚See you later!'

 

22. Oktober 2002

 

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