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Cyberwar - Krieg der vierten Dimension 2/2

Naive Zeitgenossen freuen sich über den scheinbar unaufhaltsamen technischen Fortschritt und tatsächlich macht er unser tägliches Leben interessanter und bequemer. Aber die Entwicklung der Informationstechnologie verläuft so rasant, dass viele Bereiche der Gesellschaft diesem Tempo nicht folgen können. So entstehen rechtsfreie Räume, das Wertesystem ändert sich in sehr kurzer Zeit und immer mehr Tabus werden gebrochen. Niemand ist in der Lage, diese Entwicklung zu steuern oder auch nur ihre Folgen abzuschätzen. An verdeckte Nebenwirkungen denkt kaum jemand. Aber sie existieren und sie können sich zu einer globalen Bedrohung entwickeln.

Lange bevor der Personal Computer (PC) Anfang der 90-er Jahre Einzug in unser Privatleben hielt, gab und gibt es Leute, die sich intensiv damit beschäftigen, wie man mit Computern Krieg führen kann. Computer und Militärtechnik gehören zusammen. Die Militärs der USA haben die Digitaltechnik vor der PC Ära entwickelt. Der Personal Computer ist eine zivile Nebenwirkung militärischer Entwicklungen. Die ersten gerenderten Bilder virtueller (Kriegs-) Welten, habe ich bereits Anfang der 80-er Jahre in US-Militärzeitschriften (z.B. Aviation Week) gesehen. Erst 15 Jahre später war es möglich, solche Bilder auch mit ziviler Technik (Silicon Graphics) herzustellen. Heute geht es nicht mehr um die Integration der Computer in die Militärtechnik. Diese Phase ist abgeschlossen und Stand der Technik. Es existieren auch Strahlenwaffen oder sie werden entwickelt (Big Flash), mit denen schlagartig alle Computerchips einer Grossstadt physisch zerstört werden können. Inzwischen ist die amerikanische Rüstungsindustrie bereits einen qualitativen Schritt weiter. Jetzt geht es um den Krieg in der 'vierten Dimension', den Cyberwar (von cybernetics, Kybernetik). Mit ‚Informationskrieg' wird dieser neue Krieg nur unzureichend beschrieben.

Zu Lande, zu Wasser und in der Luft wurde im dritten Weltkrieg gekämpft. Unter Cyberwar versteht man etwas Neues: Angriffe auf die digitale Infrastruktur des Gegners mit dem Ziel, Informationsfluss und Informationsverarbeitung auszuschalten. Die Folgen sind verheerender, als der Einsatz von Atomwaffen. Die heutige Zivilisation ist eine Informationsgesellschaft, völlig abhängig von IT und digitaler Technik. Ein qualitativ neues Bedrohungsszenario entsteht wenn es gelingt, in Rechner der Infrastruktur einzudringen. Damit können nicht nur Daten, persönliche Identitäten und Konten gelöscht, sondern auch die Kommunikation unterbunden, Industrieanlagen lahm gelegt und der Strom weltweit abgeschaltet werden. Auf diese Weise ist auch die gesamte Militärmaschinerie der ‚Freien Welt' ausser Gefecht zu setzen.

 

Diese Gefahr ist real, weil fast alle Rechner über das Internet miteinander vernetzt und damit praktisch von jedem erreichbar sind.

Offenbar arbeitet die amerikanische Rüstungsindustrie seit den 80-er Jahren an Szenarien und Techniken des Cyberwar. Das Internet ist dafür ein Paradebeispiel, denn es war in seiner frühesten Phase ein rein militärisches Projekt. Die Aufrüstung des Weltraumes ist integraler Bestandteil des Cyberwar, weil Nachrichtensatelliten für die globale Digitaltechnik unverzichtbar sind. Ausserdem träumt Amerika davon, sich durch weltraumgestützte Waffen zu verteidigen. Der 11. September 2001 hat gezeigt, wie gross diese Illusion ist. Anfällig für digitale Angriffe ist vor allen Dingen die Erste Welt. Die Dritte Welt ist weitestgehend immun dagegen, weil dort keine digitale Infrastruktur vorhanden ist. Die Dritte Welt aber kann mit wenig Geld und viel Know How die digital gesteuerte Infrastruktur der Ersten Welt angreifen.

Wie hoch die Motivation der Armen ist, die Reichen dieser Welt das Fürchten zu lehren, haben sie in NYC demonstriert. Das eigene Leben und die technischen Errungenschaften der Ersten Welt wurden zu fliegenden Bomben umfunktioniert. Die Armen haben mit dieser neue Art von Terrorismus eine fürchterliche Waffe erfunden. Dieser Terrorismus ist hoch gerüsteter militärischer Gewalt gleichwertig. Wem das am 11. September noch nicht klar geworden ist, dem wird es durch den gegenwärtigen Krieg zwischen Israelis und Palästinensern bewiesen: Keine Seite kann diesen Krieg gewinnen, wieder ist ein Gleichgewicht des Schreckens erreicht. Bald sind mit Hackersoftware noch wesentlich grössere Effekte, als mit Selbstmordattentaten und vollgetankten Flugzeugen zu erreichen. Die digitale Basis der hoch technisierten Zivilisation ist ein lohnendes Angriffsziel für arme, aber zu allem entschlossene Terroristen. Ein Teufelskreis.

Aus meiner Sicht gibt es nur einen Ausweg: Nur ein Paradigmenwechsel kann diesen Konflikt aus der Welt schaffen: Mit politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Strategien muss das Bildungsniveau und der Lebensstandard der unterschiedlichen ‚Welten' dieser Erde aus- und angeglichen werden.

Die Erste Welt - allen voran Amerika - sollte möglichst schnell begreifen, dass militärische Gewalt, globale Wirtschaftsmacht und Hegemonialansprüche zum Kollaps dieser Zivilisation führen werden. Die Widersprüche zwischen Arm und Reich werden damit nicht beseitigt, sondern verschärft. Jede Nachrichtensendung beweist genau das.


Jürgen Albrecht, 03. April 2002

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