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Wo sind die Intellektuellen? 4/4

Erst kurz nach der Wende tauchten Anfang 1990 an den 'Runden Tischen' ein paar Intellektuelle vom 'Bündnis 90' auf, die vorher völlig unbekannt waren: Konrad Weiss, Jens Reich, Wolfgang Uhlmann, Richard Schroeder, Friedrich Schorlemmer, Ingrid Köppe, Bärbel Bohley und andere. Hervorragende Köpfe, aber sie gaben schnell wieder auf, als es um konkrete, intrigante Politik ging. Es waren tatsächlich Intellektuelle und keine Macher. Heute ist die Partei, die sich 'Bündnis 90, Die Grünen' nennt, sogar an der Macht. Der Name existiert noch, aber nicht ein Politiker vom 'Bündnis 90' konnte einen führenden Regierungsposten ergattern. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass es sich bei diesem Bündnis um einen intellektuellen Zirkel gehandelt hat. Auch der Name 'Bündnis 90' wird bald verschwunden sein.

Und wie sieht es heute in der Bundesrepublik Deutschland aus? Wo sind die Intellektuellen und wie nehmen sie Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaft? Solchen Leuten wie Jürgen Habermas, Günter Grass, Walter Jens, Christoph Hein, Reiner Kunze, Carl v. Weizsäcker und Martin Walser würde ich noch am ehesten den Status von Intellektuellen zubilligen. Aber wo sind sie und wie nehmen sie Einfluss auf das öffentliche Leben? Sie sind resigniert untergetaucht. Gehört das eitle, zänkische und besserwisserische Geschwätz von Marcel Reich-Ranicki und Helmuth Karrasek zur intellektuellen Szene Deutschlands? Oder die teilweise sehr interessanten Analysen der ZEIT oder des SPIEGELs? Es sind die Rudimente einer untergehenden Kultur des Geistes. Sie wird abgelöst von der pluralistischen Beliebigkeit und der Kunst des Trivialen: Endlose Talkshows auf nicht mehr zu unterbietendem Niveau, Dauerfernsehen auf 50 Kanälen und Big Brother Rummel. Brot und Spiele in jeder nur denkbaren Variante. Das ist der deutsche Alltag von Menschen, die sich fast alle das eigene Denken abgewöhnt haben.

In der DDR haben die Menschen ihren Verstand dazu benutzt, sich Erfolgserlebnisse in der Arbeit, beim Improvisieren und auf der Datsche zu verschaffen. Heute ist sogar das schon Luxus. Erfolgserlebnisse durch Arbeit können sich nur wenige leisten. Wer nicht von der 'Stütze' ruhig gestellt ist und sein Leben vor dem Fernseher verbringt, beschäftigt seinen Verstand nur mit einer einzigen Frage: Wie komme ich zu Geld?

Das ist die Perspektive, die auch die Intellektuellen von Budapest erwartet. Ironie des Schicksals, dass die Funktion des Geldes sich als so universell erweist, dass es sogar das Denken überflüssig macht - wenn man es hat.

Was kommt nach den Utopien der Intellektuellen, nach der Kunst der Moderne, nach dem Pluralismus und nach dem Geld? Das sind die Fragen, die mich brennend interessieren, die mir aber auch meine Budapester Freunde mit den Spezialantennen nicht beantworten können.



PS:

Natürlich wollte ich steif und fest behaupten, dass ich diese Story in Budapest im Café New York geschrieben habe. Alles andere wäre doch ein unverzeihlicher Stilbruch ... oder ?! Aber das ist nicht durchzuhalten. Der ganze New York Palast ist baufällig und komplett geschlossen. Also war ich im Café Gerbeaud ...? Nein, da sind die Tische zu klein, der Kuchen zu gut und das Rattern der alten Metro stört meine Konzentration. Aber das ist die reine Wahrheit: Diese Story habe ich am 04. März 2001 zwischen 10:30 und 12:30 Uhr mit Hilfe mehrerer starker Espressos im Central Kávéház geschrieben.
Ehrlich ...!

 

Jürgen Albrecht, 04. März 2001, Budapest

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