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Technische Zuverlässigkeit

 

Vor ca. drei Wochen gab es ein fürchterliches Zugunglück: Die Katastrophe von Eschede. Dieses Unglück wird in die Geschichte eingehen. Nicht nur wegen der 100 Toten, sondern weil es den Glauben an die Sicherheit deutscher Technik erschüttert hat. Der Vorzeigezug der Bahn, der Intercityexpress ICE, den man so gern auch ins Ausland exportieren möchte, dieser ICE hat den schlimmsten überhaupt vorstellbaren Unfall verursacht: Er ist praktisch mit 200 km/h gegen eine Wand gefahren. Heute steht die Unfallursache recht genau fest: Ein Radreifen ist geplatzt, er hat eine Weiche verstell, der Zug ist an der Weiche entgleist, frontal an einem Brückenpfeiler gestoppt worden und die einstürzende Brücke begrub die bereits verkeilten Wagen unter sich. Schlimmer konnte es nicht kommen: Was prinzipiell passieren kann, passiert auch irgendwann: Murphy's Gesetz.

Der Mensch hat die Naturgesetze erkannt und sie dann für seine Zwecke nutzbar gemacht. Damit hat er sich mit Technik umgeben und sich von dieser Technik in hohem Maße abhängig gemacht. Diese Technik ist unzuverlässig und störanfällig. Deshalb passieren ständig Unfälle, die auf die unzulängliche Technik zurückzuführen sind. Der schlimmste technische Unfall war bisher der Gau von Tschernobyl. Ein Atomkraftwerk geriet außer Kontrolle. Die meisten Unfalltoten gibt es eindeutig durch den Straßenverkehr, durch das Auto. Jährlich kommen dadurch in Deutschland ca. 8.000 Menschen um. Vor 20 Jahren waren es sogar noch 40.000 Verkehrstote. Das ist die gesamte Bevölkerung einer Kleinstadt – unvorstellbar!! Praktisch jede Woche kommt in Berlin ein Radfahrer (ich bin einer !!) zu Tode. Und alle haben sich daran gewöhnt. Das ist keine Schlagzeile mehr wert. Im Gegenteil, Schlagzeilen gibt es, wenn in Brandenburg am Wochenende nicht die obligaten 10 Verkehrstoten zu beklagen sind. Viel wird über die umweltschädliche Emission des Autos und über den Benzinverbrauch geredet. Die Unfälle und die unzähligen Toten sind kein Thema, ungebrochen ist das Auto des Deutschen liebstes Kind.

Statistisch gibt es nicht so viele Unfälle mit dem Flugzeug. Aber weil so viele in der Luft sind, ist auch immerzu ein Unglück zu beklagen. Und weil kaum einer ein solches Unglück überlebt und die Maschinen immer größer werden, sind diese Unfälle immer spektakulär. Statistisch gibt es die meisten Unfälle in Haus und Garten, aber mit deutlich weniger Toten. Kreissäge, Küchenmaschine, Leiter, elektrischer Strom, Gas, Wasser, Balkone ... alles das sind Gefahrenquellen, mit denen der Mensch nur unzureichend umgehen kann.

Wie unsicher die vom Menschen entwickelte Technik ist, sieht man beispielhaft am Computer. Wenn dort jeder 'Absturz' das Leben kosten würde, wäre aus dem Computer nie eine neue Kulturtechnik geworden:

 

Alle Computerfreaks wären schon hundertfach tötlich verunglückt!! Jeder hat solche Abstürze erlebt, nur bei Windows NT sind sie signifikant geringer. Nach so einem Crash besteht die einzige Hoffnung darin, daß der Rechner nach dem Aus- und Einschalten vielleicht doch wieder hochfährt. Kleine Abstürze sind an der Tagesordnung: Das Programm 'verschluckt' sich, eine Datei wird nicht geladen, eine Web-Seite öffnet sich nicht, die ZIP-Diskette kommt nicht mehr aus dem Laufwerk usw. Täglich gibt es solche Probleme, sie gehören ganz selbstverständlich zum Computeralltag. Auch hier redet kaum einer über die Unzuverlässigkeit. Jeder weiß es und trifft seine Gegenmaßnahmen. Es wird ganz selbstverständlich akzeptiert, daß solche Probleme immanenter Bestandteil der IT-Branche sind.

Was ist der Grund für diese Unzuverlässigkeit? Das entscheidende Stichwort heißt Komplexität. Jede Technik, die der Mensch erfindet, wird sehr schnell komplex und der Mensch beherrscht nur eine sehr geringe Komplexität. Bewußtseinsforscher gegen davon aus, daß der Mensch sicher 5 bis 10 verschiedene Vorgänge oder Parameter überwachen, managen und steuern kann. Bei 20 solchen Dingen ist schon höchste Konzentration erforderlich und bei 30 verschiedenen Prozessen hat jeder Mensch bereits die Übersicht verloren. Beispiel Arzt: Kein Arzt überblickt 30 unterschiedliche Symptome, sondern er stellt die Diagnose mit 3 bis 5 auffälligen Merkmalen. Manche Krankheiten sind aber erst durch die Kombination von 60 Symptomen zu diagnostizieren !! Das ist das Generalproblem: Der Mensch beherrscht nur eine geringe Komplexität, aber seine Umgebung ist komplex und auch die Technik, die der Mensch entwickelt, ist meistens viel komplexer, als der Erfinder glaubt. Es gibt deshalb keinen Ausweg aus den technischen Unfällen. Sie werden eher zu- als abnehmen, denn es wird immer mehr und immer kompliziertere Technik entwickelt (Gentechnik !!). Die Fähigkeiten des Menschen, seine hochgerüstete Umwelt zu steuern, nimmt aber absolut nicht zu, sie verändert sich nicht.

Gibt es Unfälle auch in der Natur? Ein Erdbeben, eine Überschwemmung, ein Meteoriteneinschlag ist ein Naturereignis. Ein Unfall ist das nicht. Ein Unfall wäre nur in der belebten Natur vorstellbar: Eine Kuh mit zwei Köpfen, ein vierblättriges Kleeblatt. Es gibt solche Unfälle, aber sie haben fast keine Auswirkung auf die Evolution des Lebens. Die organische Evolution ist offensichtlich extrem stabil. Der Konstrukteur in dieser uns nicht zugänglichen Schicht, beherrscht extrem komplexe Systeme.

Kein Vergleich mit menschlichen 'Werken' !!

Jürgen Albrecht, 28. Juni 1998

 

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