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Urlaub in ... Seite 2/2

 

Das Wattenmeer ändert sich ständig, immerzu eine andere Sicht. Es war kalt, nur um 10 bis 12 Grad. Da gab es nur eines: Bewegung. Die Alternative war eine (teure) Gaststätte oder der warme Schlafsack. Einen Aufenthaltsraum gibt es auf diesem Zeltplatz trotz der erheblichen Preise nicht. Also habe ich mich mit Fahrrad und per pedes 12 bis 14 Stunden täglich bewegt und dann herrlich bis zu 12 Stunden geschlafen. Meine Zeltausrüstung war perfekt. Sturm, Regen und Kälte bis gegen Null Grad kann ich damit überstehen. Allerdings habe ich auch festgestellt, daß man unter diesen Umständen so sehr mit dem 'Überleben' beschäftigt ist, daß man keine Muße hat, mehr als die Fakten aufzuschreiben. Man kommt nicht zu 'großen' Gedanken und zu druckreifen Storys, wenn es kalt und windig ist, wenn in der Gaststätte laut der Fernseher mit einer hirnlosen Show läuft oder wenn zur Kaffeezeit das 'Friesen-Cafe' überfüllt ist. Aber man kommt zu guten Gefühlen, man fühlt sich wohl, wenn man diese schöne Landschaft, die alten, aber gepflegten Häuser und die relativ heile Natur sieht.

Aber mir ist auch klar geworden, wie privilegiert ich bin. Wer kann es sich leisten, sich für sechs Tage einfach von seiner Arbeitsstelle ohne Urlaub zu verabschieden? Wer ist mit gut 62 Jahren so fit, daß er seine Ausrüstung mit zwei Rucksäcken auf den Campingplatz schleppt und sich dann im Zelt wohl fühlt? Wer kann sich einen Tee für 6,90 DM bestellen? In Deutschland gibt es offiziell 860.000 Obdachlose, knapp 5 Millionen Arbeitslose, 2,7 Millionen leben von der Sozialhilfe, es gibt rund 10 Millionen Menschen, die monatlich ein Einkommen unter 941,50 DM haben und deshalb offiziell als 'arm' eingestuft werden. Die Dunkelziffern für diese Werte sind so groß, daß man diese Zahlen ruhig auch verdoppeln kann. Außerdem liegt der höchste Steuersatz in Deutschland bei 54 % (oder höher?). Das bedeutet, daß alle Preise mindestens halbiert werden könnten, wenn sich der Staat nicht so unverschämt bei jedem Geschäft mit bedienen würde. Gleichzeitig aber ist der DAX (Deutscher Aktienindex) im vergangenen Jahr von 3300 auf 5300 (jeweils April) gestiegen, das heißt auf 160 %. Die Bundesbank hat im vergangenen Jahr einen Rekordgewinn von 23,5 Milliarden DM erwirtschaftet (wodurch? Jedenfalls nicht durch Arbeit und Produktion ...). SIEMENS hatte 1996 einen Konzernumsatz von 64 Milliarden US$ (soviel wie der Staatshaushalt von Kolumbinen).

 

Die Bilanzsumme der fünf größten deutschen Banken liegen jeweils in der Größenordnung des deutschen Staatshaushalts: Etwa bei 450 Milliarden DM. Jede dieser Banken kann als 'global player' also mindestens mit der gleichen Geldmenge 'spielen', die dem Finanzminister Deutschlands zur Verfügung steht.

Deutschland ist auch als Urlaubsland schön. Die Sünden gegen die Natur in den letzten 200 Jahren sind mindestens erkannt und man steuert erfolgreich auf einen Kurs der Koexistenz zwischen Mensch und Natur. Aber das soziale Fundament des deutschen Staates ist morsch und vielen droht unverschuldet der Ab- und Ausstieg aus dieser Gesellschaft. Die Finanz- und Wirtschaftspolitik mindestens der letzten 15 Jahre führt eindeutig zu einer Umverteilung des Reichtums von unten nach oben. Die Schere zwischen Arm und Reich ist groß und sie wird größer. In besonderem Maße sind die Landstriche benachteiligt, die 40 Jahre lang DDR waren und jetzt von der Bundesrepublik als 'neue Länder' übernommen worden sind. Ein Blick aus dem Zugfenster zeigt noch heute – fast 10 Jahre nach der Eingemeindung – ob der Zug durch West- oder durch Ostdeutschland fährt. Genau so, wie man an den Einfamilienhäusern und der Infrastruktur sofort Ost oder West erkennt, kann man das mit einem Blick auf die Kontostände feststellen: Nur ca. 5 % des deutschen 'Volksvermögens' befindet sich in ostdeutscher Hand.

Ist es bei dieser Situation ein Wunder, daß 13%, vorwiegend junger Wähler, in Sachsen Anhalt der einfachen Parole der DVU zustimmen und 'Protest' gewählt haben? Ist es ein Wunder, daß die PDS 19 % der Stimmen bekommen hat? Es ist kein Wunder, denn es ist keine Tendenz und keine Perspektive zu erkennen, daß sich an der gegenwärtigen Situation in Deutschland, die einem auch bei einem Kurzurlaub in Amrum drastisch vorgeführt wird, grundsätzlich etwas ändern wird.

Egal, welche Partei oder welche Koalition im September 1998 die Bundestagswahlen gewinnen wird, an der Geldverteilung in Deutschland wird das nichts ändern. Oder gibt es einen in der Runde, der mir glaubhaft das Gegenteil belegen kann?

Jürgen Albrecht, 07. Mai 1998

 

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