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Streit um Symbole

In Deutschland streitet man sich nicht mehr um Brot, Kartoffeln und um ein Dach über dem Kopf wie nach dem Krieg – der Streit um Symbole hat den Streit um materielle Güter abgelöst. Das heißt nicht, daß damit der Streit weniger heftig und weniger ernsthaft geführt wird. Im Gegenteil, Deutschlands höchste Gerichte werden zur Schlichtung angerufen.

Bei der Rechtschreibung geht es nicht um typische Symbole, aber man sieht dabei, daß Schriftzeichen auch ganz schnell zu Symbolen werden können. Um die Schreibweise ‚daß‘ oder ‚dass‘ tobt ein Stellvertreterkrieg. Das Bundesverfassungsgericht hat salomonisch entschieden: Jeder kann seit dem 1. August 1998 schreiben, wie er will.

Wie ernst ein Streit um Symbole ist, sieht man am Hakenkreuz. Jeder wird vor ein Gericht gezerrt, der ein Hakenkreuz an die Wand sprüht. Gerade ist ein solcher Prozeß im Gange: Bei einer Sylvesterfeier in Brandenburg wurde ‚aus Langeweile‘ ein 14-jähriges Mädchen drangsaliert und mißhandelt, zum Schluß (nach 5 Stunden) wurde ihr ein Hakenkreuz auf die Brust gesprüht. Wenn sich Skinheads, deren kahl oder kurz geschorener Kopf das Symbol der Zugehörigkeit zu einer verschworenen Gemeinschaft ist, SS-Runen in den Schädel rasieren oder auf die Arme tätowieren, dann sind das Symbole, die jeder versteht: Heil Hitler. Schon wieder ein Symbol: Die ausgestreckte rechte Hand: Der Hitlergruß. Die erhobene, geballte Faust: Das Gegenteil: Rot Front.

Eines der ältesten Symbole ist die Fahne. Ein Stück wertloses Tuch, darauf ein Zeichen gemalt, angebunden an einen vom Baum gerissenen Stock: Fertig ist die Provokation, die die Menschen zu den Waffen greifen läßt. Was für Elend ist mit ‚fliegenden Fahnen‘ in den letzten 10.000 Jahren über die Menschheit gekommen. Ich habe schon als 12-jähriger Junge in Salzwedel nicht verstanden, wie das neue sozialistische System den gleichen Fahnenkult wie die Nazis treiben konnte. Nur das Symbol auf der Fahne und die Farbe war anders, sonst war alles gleich. Das wollte mir nicht in den Kopf und so richtig verstehe ich es auch heute noch nicht. Aber nicht nur der Fahnenkult ist in einem Lande nach einem solchen Umbruch gleich, Fahnenappelle gibt es weltweit auf allen Kontinenten und sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen: Der gleiche Ritus mit ähnlichen Symbolen in Malaysia, in Peru und zum Beispiel in Polen.

Mindestens so heftig, wie um politische Symbole wird weltweit um religiöse Symbole gestritten, gekämpft und Krieg geführt. Ganz sonderbar ist, wenn man als ‚Ungläubiger‘ an einem religiösen Ritus teilnimmt. Ob das ein Gottesdienst bei den Katholiken, eine Feier in einer nepalesischen Pagode oder die Neujahrsfeste in einem vietnamesischen Tempel sind –

überall sind symbolische Handlungen mit symbolischen Gegenständen in einer Umgebung voller Symbole zu beobachten. Der nicht ‚eingeweihte‘ versteht den Ritus nicht und für ihn ist er auch ohne jede Bedeutung.

Gerade ist Deutschland tief zerstritten, ob eine in Deutschland geborene Muslima Lehrerin im deutschen Staatsdienst werden und dabei mit Kopftuch vor der Klasse stehen darf. Der ‚Frei‘-Staat Bayern sagt per Gerichtsbeschluß: Nein, das ist religiöse Indoktrination. Der gleiche Freistaat aber verfügt per Gesetz, daß in jedem Klassenzimmer das Kruzifix hängen muß. Nur mit dem Bundesverfassungsgericht kann man erreichen, daß es im Spezial- und Einzelfall abgehängt wird. Keiner sieht mehr, was für reale Bilder eigentlich hinter dem Ritus in der christlichen Kirche stehen: Das Abbild einer Leiche eines zu Tode gefolterten Menschen hängt überlebensgroß von der Decke herab, beim Abendmahl wird der ‚Leib des Herrn‘ gegessen und das ‚Blut des Herrn‘ getrunken. Ein nekrophiler Ritus mit kannibalistischen Elementen, oder ?

Der Gipfel im Kampf um Symbole aber ist zur Zeit in Auschwitz zu beobachten. Christen haben im Andenken an 152 ermordete Polen ein acht Meter hohes Holzkreuz aufgestellt. Die Juden protestieren seit Jahren dagegen, weil sie sich dadurch in ihrer Andacht gestört fühlen. Schließlich sind an der gleichen Stelle mehr als eine Million Juden umgebracht worden, also haben die Juden 10.000 mal mehr Grund zu trauern, als die Christen. Die polnischen Katholiken sind empört und stellen immer mehr kleinere Kreuze auf, es sind schon mehr als hundert. Nicht zu fassen !

Viele Symbole existieren auch im privaten Bereich. Ein ganz seltsames Symbol mit verheerender Wirkung ist der erhobene Mittelfinger (besonders bei Autofahrern beliebt): ‚Stinkefinger‘. Eine Beleidigung, mit der man sofort ein Gerichtsverfahren am Hals hat.

Seltsam, daß der Mensch von sensibel bis gewalttätig auf abstrakte, mit Bedeutung beladene Symbole reagiert. Sogar der Stier rennt wegen einem roten Tuch in seinen sicheren Tod. Warum, woher kommt diese eindeutige Wirkung? Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist die Lösung ganz einfach: Die Natur hat seit der frühesten Evolution die abstrakte Technik des Signalwesens als vorteilhaftes Mittel bei der Nahrungsbeschaffung und der Fortpflanzung erkannt und eingesetzt. Millionen von Jahren vor der Entwicklung von Sprachen haben Lebewesen auf Signale, als Symbole für Nachrichten reagiert. Es klappt auch jetzt noch so gut und reibungslos, weil es so eine steinalte Technik des Lebens ist.

Jürgen Albrecht, 09. August 1998

 

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