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Service-Wüste Deutschland

Gestern habe ich endlich meine Weihnachtspost erledigt. Im Verlauf von drei Stunden habe ich 15 Briefe produziert, der Computer und die Variation eines Brieftextes macht's möglich. Vorsorglich hatte ich mir schon 10 Briefmarken gekauft. Jetzt waren es mehr Briefe geworden, ich brauche noch einmal 5 Briefmarken a 1,10 DM, soviel kostet inzwischen ein Brief. Na, macht nichts, ich wollte die Briefe ja sowieso heute morgen zum Briefkasten bringen.

Die Odyssee fängt am Briefkasten vor meiner Haustür an: Leerung nicht am Sonntag, heute aber ist Sonntag.Es gibt einen Hinweis: Der Sonntagsbriefkasten befindet sich an der Friedrich-, Ecke Mohrenstraße. Ich habe ja Gott sei Dank mein Fahrrad dabei. Damit fahre ich erst mal zur Friedrichstraße, Ecke Kochstraße. Dieser Zeitungsladen hier hat immer auf. Auch sonntags bis 15 Uhr, bei Bedarf auch länger. Zeitungen gibt es, aber keine Briefmarken. Die sind über die vielen Feiertage ausgegangen.

Ich muß zurück und noch mal hoch in den 16. Stock: Für die Post gegenüber auf der Leipziger Straße brauche ich meine EC-Karte. Als ich die in den entsprechenden Schlitz stecke, rührt sich nichts. Durch die Glasscheiben sehe ich den Briefmarkenautomaten (hätte er funktioniert?), aber ich komme nicht an ihn ran. Das ist mir genau so schon vor ca. 8 Wochen passiert. Aber was sind schon 8 Wochen für die Post.

Im Hotel Hilton nebenan, gibt es einen Souvenierladen, der auch Zeitungen verkauft. Der Laden ist auch auf, aber: 'Wir haben nur 1,- DM-Briefmarken und auch nur für unsere Postkarten.' 'Danke!'

Ich fahre die Friedrichstraße runter in Richtung S-Bahnhof. Hier gibt es nicht ein Geschäft, das am Sonntag gegen 10:30 Uhr auf hat! In der Französischen Straße gab es doch eine Behelfspost, solange die Post gegenüber rekonstruiert wird? Das war mal, die Container sind weggeräumt. Die ehemalige Post - ein herrliches Gebäude aus der Gründerzeit - hat jetzt dicke, unpassende Stahltüren: Hier residiert jetzt eine Bank. Ein Polizist erklärt mir freundlich, daß es jetzt eine Post direkt dahinter, in der Jägerstraße gibt. Hervorragend! Eine schicke neue Glasfassade. Hier hat man gar nicht erst den Versuch gemacht, mit einer EC-Karte auch am Sonntag Kunden hereinzulassen. Alles ist geschniegelt und gebügelt, aber alles ist zu. Aber davor stehen gleich zwei Briefkästen, die auch sonntags geleert werden. Hier werde ich wenigstens jetzt die Briefe los, für die ich schon Briefmarken habe.

Ich fahre weiter in Richtung S-Bahnhof. An der Ecke Friedrichstraße/Unter den Linden steht noch einen Zeitungskiosk aus DDR-Zeiten. Hier ist die Mitte von Berlin, hunderte von Touristen laufen hier vorbei, aber der Kiosk hat jetzt noch nicht auf ... vielleicht später.

Jetzt bin ich ja schon fast am Bahnhof Friedrichstraße. Eine einzige Baustelle. Vor ein paar Monaten noch gab es hier einen Bäcker, einen großen Zeitungsladen und einen Fahrkartenschalter. Ich weiß, der Zeitungsladen ist umgezogen: Auf die untersten Ebene, wo die S-Bahn nach Oranienburg fährt. Nur ich weiß, wie man dort hin kommt. Völlig unübersichtlich, hier auf der Baustelle jetzt zu den S-Bahnsteigen zu gelangen. Und tatsächlich, hier erwartet mich ein riesiges Erfolgserlebnis: Es gelingt mir, mitten in Deutschlands Hauptstadt am Sonntag um 10:45 Uhr fünf Briefmarken a 1,10 DM zu kaufen!

Jetzt fahre ich wieder zurück zum Briefkasten in der Jägerstraße und ich muß mich beeilen, denn der wird am Sonntag natürlich nur einmal geleert, und zwar um 11:15 Uhr. Aber per Fahrrad schaffe ich das ja locker.

So, die Briefe bin ich los, bei dieser Gelegenheit werde ich jetzt noch die Kontoauszüge mitnehmen. Die HypoBank an der Ecke Mohren-, Friedrichstraße, da wo der Sonntagsbriefkasten auf der anderen Seite steht, läßt mich mit der EC-Karte rein. Auch den Kontoauszug bekomme ich hier, aber keiner weiß, warum man dafür ein A4-Kopfbogen verschwenden muß, auf dem nur fünf Zeilen Text stehen.

Schräg gegenüber die Dresdner Bank. Auch hier komme ich mit der Karte ins Foyer. Aber, oh Wunder, beide Kontoauszugsdrucker sind 'Außer Betrieb'. Das paßt gut zu meiner Hausbank, denn seit kurz vor Weihnachten funktioniert auch das Online-Banking nicht mehr. Plötzlich und unerwartet wird mir gesagt, daß alle meine TAN-Nummern, die ich noch mühsam mit der Hand eintippen muß, ungültig sind. Per Telefon ist keiner erreichbar: Jetzt ist Weihnachten und dann ist Sylvester.

Aber morgen ist Montag, und da wird der Standort Deutschland langsam wieder aus dem Winterschlaf erwachen. Am Dienstag aber ist in Sachsen-Anhalt schon wieder Feiertag, also fängt das Geschäftsleben in diesem Bundesland, in dem sich auch meine Arbeitsstelle befindet, erst am Mittwoch wieder an. Das ist dann schon der 7. Januar und der Freitag ist nicht mehr weit ...

Jürgen Albrecht, 04. Januar 1998

 

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