BACK

 

Aufhebung der Nazi-Urteile

 

Vor ca. 6 Wochen hat der Bundestag die Urteile für null und nichtig erklärt, die von Hitlers Richtern im sogenannten Dritten Reich gefällt worden sind. Das ist ein dunkles Kapitel deutscher Vergangenheitsbewältigung. Und offensichtlich ist es nicht abgeschlossen. Diese Information habe ich nur aus dem Fernsehen, ich habe in keiner Tageszeitung und auch nicht im SPIEGEL, den ich regelmäßig lese, darüber etwas gefunden. Diese Angelegenheit ist offensichtlich mit einem Tabu belegt. Ich kenne nur eine Klasse von Menschen, die über fünfzig Jahre auf ihre Rehabilitierung warten mußten: Die Deserteure der ‚Deutschen Wehrmacht‘. Um das Ausmaß des erst jetzt beendeten Unrechts zu begreifen muß man sich folgendes vorstellen:

Ein junger Mann, gerade 18 Jahre alt geworden, wird im Februar 1945 vom Gymnasium weggeholt, an dem er kurz vor dem Abitur stand und in die Wehrmacht als ‚letzte Reserve‘ eingezogen. Er wird in einem Schnellkurs zum Soldaten ausgebildet und nach spätestens vier Wochen nach Osten, gegen ‚den Russen‘ geschickt. In Schlesien erlebt er die Flüchtlingstrecks und sieht, daß die deutschen Truppen von der Roten Armee mühelos überrannt werden. Er hat ganz einfach Angst und den Eindruck, daß jede weitere Gegenwehr sinnlos ist. Deshalb setzt er sich von der Truppe ab und versucht, sich nach Süddeutschland durchzuschlagen. Eine Militärstreife greift ihn in Passau auf und steckt ihn ins Gefängnis. Er hat Glück, daß er nicht standrechtlich erschossen wird. Während die Schlacht um Berlin tobt, wird er von einem bayrischen Gericht wegen Fahnenflucht zu 10 Jahren Arbeitslager verurteilt (ich weiß nicht, welche Strafen verhängt wurden ...). Drei Wochen später wird er von den Alliierten aus dem Gefängnis befreit, Deutschland hat kapituliert. Er braucht in der sich dann entwickelnden Bundesrepublik zwar nicht mehr ins Gefängnis, aber er gilt als vorbestraft und er wird lebenslang den Makel nicht los, ein Deserteur zu sein. Das steht in seinen Personalakten und bestimmt seine Karriere im Nachkriegsdeutschland. Er darf nicht studieren, er findet keine Arbeitsstelle im öffentlichen Dienst und auch keine bei einem mittelständischen Unternehmen, die noch in den 70-er Jahren von den Leuten geleitet werden, die Hitler emphatisch zugejubelt hatten.

Erst im Jahr 1998 wird ihm von diesem deutschen Staat bescheinigt, daß es kein Verbrechen war,

 

im Jahre 1945 der Wehrmacht den Rücken zu kehren und zu desertieren. Da ist es zu spät. Inzwischen ist der Mann über siebzig Jahre alt.

Das ist ein von mir frei erfundener Fall. Und das ist der Spezialfall eines Deserteurs. Betroffen sind aber alle politischen Urteile, die in der Zeit zwischen 1933 und 1945 von der Nazidiktatur gefällt worden sind. Zum Beispiel auch die gegen die Frauen und Männer des Hitlerattentats vom 20. Juni 1944. Dreiundfünfzig Jahre mußten vergehen, bis in deutschen Gerichten das nationalsozialistische Gedankengut soweit reduziert ist, daß es zu einem Mehrheitsbeschluß kommen konnte, der diese Urteile aufhebt.

Es gibt keinen anderen Grund als diesen dafür, daß das dreiundfünfzig Jahre gedauert hat: Die politische Legislative und auch die Exekutive im Nachkriegsdeutschland war bisher der Meinung, daß die Aufhebung dieser Urteile ein größeres Unrecht als der Bestand dieser Urteile ist. DAS ist (West-) Deutschland mehr als 50 Jahre nach dem Untergang der Nazidiktatur !!!

Mir ist das völlig unbegreiflich. Aber daß jetzt darüber nicht geredet oder geschrieben wird, ist sehr bezeichnend und es zeigt, daß dieser Geist immer noch an der Macht und in der westdeutschen Seele tief verwurzelt ist. Je weiter man in den Süden von Deutschland kommt, umso stabiler ist das braune Gedankengut. Nicht umsonst haben sich die Vertriebenenverbände vorwiegend im Freistaat Bayern angesiedelt und dort die größte Unterstützung.

Das ist eine der wenigen Stellen, an der die DDR besser war, als die Bundesrepublik: Mit der Nazi-Vergangenheit ist dort wirklich gründlich aufgeräumt worden. Davon kann im vereinten Deutschland keine Rede sein. Die Aufarbeitung der jüngeren deutschen Geschichte steht noch aus. Daß die Urteile des untergegangenen Reiches erst dreiundfünfzig Jahre danach aufgehoben wurden, werden spätere Historiker als ein Zeichen für die entsetzlich lange Lebensdauer der Nazi-Ideologie werten.

Aber die Westdeutschen befinden sich damit in bester Gesellschaft: Ideologien und Religionen, die einfache Rezepte für das Leben bereithalten, sind nicht tot zu kriegen.

Jürgen Albrecht, 10. August 1998

 

BACK