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Im Osten ist alles anders

 

Großer Katzenjammer nach der Regierungsbildung in Sachsen-Anhalt. Die SPD läßt sich auch in den nächsten vier Jahren von der PDS tolerieren. Aus der großen Koalition (groß ist die CDU mit 22 % wahrlich nicht) ist nichts geworden. Ein sehr intelligenter Artikel mit vielen Fakten im SPIEGEL 21/1998: 'Im Kindbett gemeuchelt'.

Der Westen versteht den Osten nicht und umgekehrt. Die Demokratie, die mit der Einheit über uns im Osten gekommen ist, stellt sich als ähnlich hohl und als die gleiche Attrappe heraus, die wir in der Deutschen 'Demokratischen' Republik hatten. Auch da gab es Wahlen, die an den Verhältnissen nichts geändert haben, auch da gab es Volksvertreter, die nur beim Volk erschienen, wenn Wahlen anstanden und auch da gab es ein Parlament, in dem Reden aus dem Fenster hinaus gehalten wurden. Auch in der DDR war alles zentralisiert, die Linie wurde von oben vorgegeben und unten ausgeführt. So ist das jetzt auch. In der Bonner SPD-Zentrale wird entschieden: In Sachsen-Anhalt machen wir eine Große Koalition. Republikweit wird am Durchsetzungsvermögen von Lafontaine gezweifelt, wenn Höppner diese Koalition nicht realisiert.

Die Spielregeln dieser bundesdeutschen Demokratie sind fieser, als die in der DDR. In der DDR gab es eine einheitliche Sprachregelung, an die mußte man sich halten. Man mußte bei der entsprechenden Gelegenheit sagen, was die Genossen hören wollten. Das war schlimm genug. Aber 'das Volk' war sich weitestgehend gegen die 'Guten Genossen' einig. Jeder wußte, die wollen, daß wir lügen, na, da lügen wir eben gemeinsam.

Hier aber herrscht Kampf jeder gegen jeden, denn es geht nicht nur um Macht und Karrieren, sondern immer auch um Geld und Pfründe. Darum ging es in der DDR nie: Keiner hatte Geld, keiner war reich, alle waren mehr oder weniger arm, jeder hatte die gleiche Wohnung und keiner mußte hungern. Wer jedenfalls mit der Wende erwartet hatte, jetzt kommt eine andere Art von Demokratie zur Wirkung, der sah sich nach der Zeit der runden Tische, in der es wirklich um die Sache und die Überwindung eines repressiven Systems ging, getäuscht. Diese Enttäuschung verschafft heute im Osten der PDS und der DVU Zulauf.

Ich hatte solche Illusionen nie, ich habe auch zu keiner Zeit emotionale Beziehungen zu Kohl oder der CDU gehabt und nicht begriffen, wie er mit den Stimmen der DDR-Bürger wieder zum Kanzler gewählt wurde. Aber ich bin nicht repräsentativ. Für mich war das schlimmste in der DDR die geistige Borniertheit und die verrammelten Grenzen. Das hat sich völlig geändert. Das ist hervorragend.

In der vergangenen Woche habe ich einen ganzen Abend mit Prof. G. diskutiert.

 

Wir haben uns gegenseitig stückweise unsere Biographien erzählt. Er ist ein 68-er Revolutionär, der sich heute fast schämt, Beamter auf Lebenszeit in diesem Staat zu sein. Aus der Armee ist er ausgestiegen, weil er die Nazi-Grundtendenz dort nicht länger ertragen konnte. Dann hat er sich für Brand und seine Ostpolitik eingesetzt und diese Entspannungspolitik als seine Sache angesehen. Jetzt weiß er nicht, wen er wählen soll, weil ihm der Kurs von Schröder zu weit in der Mitte und zu nahe am Kapitalismus liegt. Ich, ein Opportunist ohne Illusionen in der DDR und in der Bundesrepublik, ich weiß auch nicht, wen ich wählen soll (nur SPD oder die Grünen kommen infrage, aber meine Parteien sind das damit noch lange nicht...), aber mir macht das im Gegensatz zu Prof. G. keine Bauchschmerzen.

Es war ein sehr instruktives Gespräch. Wir wissen einfach zuwenig voneinander, kennen keine Detalis und unterschätzen die Tatsache, daß wir in Ost und West 40 Jahre lang – mehr als eine Generation – unter völlig anderen Verhältnissen gelebt haben. Erst bei dieser Diskussion ist mir z.B. richtig bewußt geworden, daß alle meine Illusionen von Wahrheit, Aufrichtigkeit und einer gerechten Gesellschaftsordnung in der Abi-Zeit untergegangen sind. Plötzlich sollten wir in die neu geschaffene Armee eintreten! Bis wenige Monate davor sollte noch 'jedem der Arm verdorren, der jemals wieder eine Waffe in die Hand nimmt'. Hautnah sah ich als Erntehelfer, wie auf dem Lande die Bauern enteignet und kollektiviert wurden. Ganz freiwillig, natürlich. Das prägt für ein ganzes Leben. Nie wieder habe ich an eine politische, soziale oder religiöse Utopie glauben können. Ein Leben ohne Illusion.

In dieser Woche unterhielten wir uns beim Frühstück auch darüber, wen man zur Bundestagswahl eigentlich wählen soll. Wir waren uns darin einig, daß es endlich einen anderen an der Spitze geben muß, als Kohl. Auch wenn das die Politik nicht grundsätzlich verändern wird. Frau L. bedauerte bei dieser Gelegenheit Herrn Gysi (PDS-Chef), weil man ihm eine Stasi-Vergangenheit ohne jeden Beweis anhängen will. Eine typischer Ost-Sicht: Für fast alle ist (ohne eineindeutigen juristischen Beweis) sonnenklar, daß Gysi ein IM (inoffizieller Stasi-Mitarbeiter) war und daß er als Rechtsanwalt seine Mandanten an die Stasi verraten hat. Nur alte SED-Kader sehen das immer noch durch eine andere Brille. Der Mann von Frau L. war selber IM. Er stand auf der Liste, die 1990 in Halle veröffentlicht wurde. Damals fragte ich Frau L. in einer größeren Runde, wie wir damit umgehen sollen?! Sie sagte damals lapidar ungefähr folgendes: 'Das ist Eure Sache, ich habe damit kein Problem.'

Im Osten ist eben alles anders.

Jürgen Albrecht, 21. Mai 1998

 

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