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Ein (west-) deutscher Skandal

Die ehemaligen DDR-Bürger kennen die Bundesrepublik zu wenig. Auch wir Alten wissen zu wenig, wie man in Westdeutschland nach dem Krieg 1945 mit der Vergangenheit umgegangen ist. Ich kann mich erinnern, daß in der jungen DDR immer gegen die ‘Globkes, Filbingers und Adenauers’ gehetzt und der Vorwurf erhoben wurde, daß auch in höchsten Regierungsämtern immer noch oder schon wieder alte Nazis säßen. Ich habe das als 14- und 16-jähriger Oberschüler als Propaganda abgetan. Für uns, vom Krieg noch deutlich gezeichnete, war so etwas einfach nicht vorstellbar.

Damals entwickelte sich der Ost-West-Konflikt aus der Uneinigkeit der Alliierten. Sie hatten Hitler-Deutschland zwar gemeinsam besiegt, jetzt aber wollte jede Seite Deutschland sein System und seine Ideologie aufdrücken. Brennpunkt war Berlin, Blockade, Grenzschikannen, Arbeiteraufstand, Mauer. Wir DDR-Bürger waren so mit diesen Problemen, der Kollektivierung der Landwirtschaft und der schlechten Versorgung trotz Lebensmittelkarten beschäftigt, daß für Überlegungen, was im Westen mit den Nazis gemacht wurde, keine Zeit und kein Nerv war.

In der DDR jedenfalls war dieses Kapitel deutscher Geschichte eindeutig abgehakt, Hitler und seine Generäle hatten den 2. Weltkrieg vom Zaun gebrochen und verloren. Die Nazi-Ideologie und die Nazis waren durch die Sozialistische Utopie und durch die ‘guten’ Genossen mit dem klaren Klassenstandpunkt ersetzt. Wir waren auf der Seite der Sieger der Geschichte. Wir waren ohne eigenen Kontakte zum Westen nicht informiert, welche Rolle die Nazis in der frühen Bundesrepublik spielten. Das einzige, was wir wußten war, daß es denen ‘Drüben’ deutlich besser ging, was Wohnung, Versorgung und Verdienst anging. Die hatten ja schon alle ‘Westgeld’!

Wie und von wem wurde in dieser Zeit die Bundesrepublik aufgebaut? Man stelle sich eine kleine Stadt in Bayern, Hessen oder Baden vor. Man hatte von Krieg kaum etwas mitbekommen, keine Bombennächte, keine Zerstörung, keine Flucht und nach dem Krieg auch keine Kollektivierung und keine guten Genossen. Es ging einfach so weiter, wie im Krieg, nur wesentlich besser. Vor allen Dingen aber mit den gleichen Leuten!!! Wer hätte sie denn durch wen ersetzen sollen?? Das hatte und hat weitgehende Konsequenzen, die jetzt noch zu spüren sind, wo wir von der Bundesrepublik (in durchaus erträglicher Form ...) eingeholt worden sind.

Nur ein paar einfache Fragen: Warum haben wir im Osten nicht nur mehr unter dem Krieg, sondern auch unter der Nachkriegszeit (und unter der Wiedervereinigung !) gelitten? Warum sind im Westen Privatleute, Mittelständler und Konzerne mit ihrem Eigentum unbeschadet über den Krieg gekommen? Warum hat es unter westdeutscher Regie keine Kriegsverbrecherprozesse gegeben? Warum sind Alte Kameraden mit guten Renten versorgt, Zwangsarbeiter aber nie entschädigt worden? Warum gibt es noch solche Konzerne ‘in Abwicklung’ wie IG-Farben, die von den Aliierten 1945 offiziell aufgelöst wurden? Warum hat 50 Jahre keiner daran gedacht, ein Holocaust-Denkmal zu bauen? Warum haben sich in Deutschland keine neuen jüdischen Gemeinden entwickelt?

Alles sehr peinliche Fragen. Sie werden von den meisten Ossis nicht gestellt, weil deren größte Probleme gelöst wurde: Fressen, Ficken und Fernsehen funktionieren. Bis jetzt hat die Strategie leidlich funktioniert, Ostdeutschland mit Geld ruhig zu stellen. Aber jetzt werden solche Fragen vom Ausland gestellt: Warum bekommen ehemalige SS-Leute in Litauen schon jahrelang Rente aus der Bundesrepublik, aber die litauischen Zwangsarbeiter haben nie eine Entschädigung gesehen?! Auch überlebende Juden haben keine Entschädigung erhalten. Offensichtlich hat die Bundesrepublik an den Staat Israel Zahlungen geleistet und sich damit das Gewissen erleichtert. In den unmöglichsten, außenpolitischen Situationen stellt sich Deutschland demonstrativ auf die Seite von Israel und den USA. Jetzt aber schreibt eine Mehrheit von Knesset-Abgeordneten an Kanzler Kohl einen offenen Brief, in dem gefordert wird, endlich (53 Jahre sind vergangen !!) noch lebende Holocaust-Opfer in Osteuropa und anderswo zu entschädigen. Was das für ein Licht auf die Vergangenheitsbewältigunjg der Bundesrepublik Deutschland wirft!

Die DDR war eine schreckliche, eine geistig bornierte Diktatur. Die Bundesrepublik war und ist eine Demokratie. In beiden Systemen haben die Machthaber ihre Interessen durchgesetzt. So wird das immer sein. Und die Macht, die das erlaubt, gründet sich auf Geld oder Gewalt. Am besten ist, gleich beides unter Kontrolle zu haben! Das war in Westdeutschland mit den USA, als stärkstem Verbündeten, der Fall. Was zählen da ein paar hunderttausend nicht entschädigte Zwangsarbeiter ...?

Jürgen Albrecht, 25. November 1997

 

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