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Das siebente Jahr der Einheit

Heute ist Feiertag, sieben Jahre ist Deutschland jetzt wieder vereinigt. Ein Festakt in Stuttgart, ein Umzug in Berlin, Volksfest, Feuerwerk und jede Menge Probleme.

Wenn man zurückschaut, dann ist es ganz wichtig, sich an die DDR-Zeit und die damalige geistige und materielle Situation zu erinnern. Im Vergleich dazu, leben alle Ossis heute im Paradies: Keiner wird mehr gezwungen, an eine mehr oder weniger utopische Ideologie zu glauben, keiner wird gehindert, das zu lesen und zu schreiben, was er für richtig hält, jeder kann reisen, wohin er will, wenn er es bezahlen kann.

Materiell geht es fast allen ehemaligen DDR-Bürgern jetzt als Bundesbürger deutlich besser. So haben z.B. fast alle in diesen sieben Jahren ihre DDR-Wohnungseinrichtung und das DDR-Auto buchstäblich auf den Müll geworfen uns sich neu eingerichtet. Die Wohnungssituation hat sich verbessert, gehungert hat auch in der DDR keiner, aber das jetzige Angebot an Lebensmitteln ist mit den damaligen Verhältnissen nicht vergleichbar.

Soweit so gut. Und jetzt kommt das große ABER, das den eindeutig positiven Vergleich mit den überwundenen DDR-Verhältnissen fast vergessen läßt: Dieses ABER ist durch folgende Vokabeln zu charakterisieren: Arbeitslosigkeit, Ungerechtigkeit, Perspektivlosigkeit und Politikverdrossenheit.

Die Regierung Kohl hat die deutsche Einheit laienhaft, unvorbereitet und unprofessionell gemanagt. Mit der Einheit Deutschlands sind zwei neue und riesige Aufgaben zu bewältigen: Die in 40 Jahren vernachlässigte Infrastruktur in Ostdeutschland ist auf Weststandard zu bringen und die Ostwirtschaft ist fit für die Marktwirtschaft zu machen.

Der erste große Fehler: Der Bevölkerung in Ost- und Westdeutschland wurde das von der Politik nie klar gesagt, die erforderlichen finanziellen und materiellen Leistungen und die dazu notwendigen Zeiträume wurden bagatellisiert (... die blühenden Landschaften).

Der zweite große Fehler: Diese beiden Aufgaben wurden nicht geplant, gesteuert und gemanagt, sondern sie wurden den berühmten 'Selbstheilungskräften des Marktes' überlassen, die schon bei der Strukturanpassung in Westdeutschland seit 30 Jahren versagen. Die Renovierung der Infrastruktur in den neuen Ländern wurde so zum großen Geschäft eingeführter westdeutscher Firmen. Die Ostwirtschaft wurde komplett privatisiert, d.h. an das westdeutsche Industriekapital verteilt. Jeder Unternehmer in Westdeutschland hatte so die Möglichkeit, seine eventuelle Konkurrenz im Osten aufzukaufen und auszuschalten.

Die Arbeitslosigkeit (derzeitig offiziell 4,5 Mio.) hat ihre Wurzeln in dieser Behandlung der Ostwirtschaft und in der nicht bewältigten Strukturanpassung in Westdeutschland.

Zur 'normalen' Ungerechtigkeit der Marktwirtschaft, die die Kapitaleigner einseitig bevorzugt, kommt jetzt noch eine spezielle Ost-West-Ungerechtigkeit. Das Schlagwort 'Gleicher Lohn für gleiche Leistung' müßte wieder auf die Fahnen geschrieben werden, weil im Osten praktisch nur 2/3 des Westlohnes verdient wird. Dazu kommen noch andere Ungerechtigkeiten wie z.B. das Immobilienproblem, Stichwort 'Rückgabe vor Entschädigung'.

Die Perspektivlosigkeit ist die Folge einer dilettantischen Politik. Die Jugend hat erst keine Lehrstellen, dann keine Arbeitsstellen. Der Standort Deutschland hat keine Perspektive, weil die meisten Produkte nicht innovativ und nicht mehr dem Stand der Technik entsprechen. Es sind keine politischen Weichenstellungen für einen Strukturwandel erkennbar. Forschung, Bildung und die Kultur, alles liegt am Boden. Statt einer Perspektive ist alles durch weitere finanzielle Kürzungen bedroht.

Kanzler Kohl aber verkündet ungerührt, daß die Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000 halbiert wird, daß der Standort Deutschland renoviert wird (große Steuerreform) und daß der Wirtschaftsaufschwung in Sicht ist. Auch der einfachste Bürger sieht, daß hinter diesen Reden keinerlei Taten stehen, nichts ist eingeleitet, was die gegenwärtige Situation verbessern könnte. Jeder weiß, daß die meisten Politiker schamlos lügen. Eine weit um sich greifende Politikverdrossenheit ist die Folge. Auch hier gibt es keine Perspektive, etwa durch eine schlagkräftige Opposition mit einem alternativen Programm. Alles die gleichen aalglatten Politiker, zur Bewegungsunfähigkeit verdammt und gefesselt durch kleinkarierte Partikularinteressen und einen landesweiten Filz von Politik, Wirtschaft und Banken. Davon profitieren ca. 5% der Bevölkerung, weil sie reich sind. Die 'restlichen' 95% werden durch das soziale Netz ruhig gestellt, ihre Grundbedürfnisse (Fressen, Ficken, Fernsehen, Fußball) werden damit befriedigt. Aber keiner glaubt und arbeitet noch für irgendwelche Werte, Ideale oder hehren Ziele. Diese Gesellschaft hat keine Vision und keine Ideale, es geht nur noch um Geld.

Denn alle Ideale wurden auf Geld reduziert. Geld ist die reinste Form von Macht. Es scheint, die Entwicklung der hoch technisierten Gesellschaft der 'Westlichen Welt' ist abgeschlossen. Ohne Einflüsse von außen wird sich an den sozialen Verhältnissen prinzipiell nichts mehr ändern.

Jürgen Albrecht, 03. Oktober 1997

 

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