BACK

 

Schlüsselwort Komplexität

Ich glaube, der größte Fehler, den wir Menschen machen können ist, die Komplexität unserer Umwelt und der uns umgebenden Natur zu unterschätzen. Man könnte alle Probleme, die wir haben eigentlich auf einen Nenner bringen: Die Probleme entstehen dadurch, daß wir glauben, alles ist einfach und alles ist zu verstehen. In Wirklichkeit sind die Zusammenhänge, in die wir eingreifen aber wesentlich komplizierter, als wir denken. Damit rechnen wir nicht, können wir nicht rechnen ... und schon haben wir wieder ein Problem. Beispiele:

Warum entdeckt Finanzminister Waigel ständig neue Finanzierungslücken? Warum gehen Ehen auseinander? Warum kippt der kleine Mercedes beim Elchtest um? Warum wissen wir nicht, wer in einem Jahr Bundeskanzler in diesem Lande sein wird? Warum und wie wachsen an den Tropenbäumen solche irren Brettwurzeln? Warum kann man die Entwicklung von Börsenkursen nicht vorhersagen? Warum gibt es kein System, mit dem man in einer Spielbank gewinnt? Warum liegen alle Planeten der Sonne in einer Ebene? Und so weiter und so fort '... Sie wissen et nich, sie wissen et nich ...!' Tucholsky.

Wir begreifen wahrscheinlich gerade jetzt in den letzten fünfzig Jahren überhaupt erst, was der Begriff Komplexität eigentlich bedeutet. Es gibt richtige Schulbeispiele dafür, in welcher Größenordnung wir die Komplexität bestimmter Sachverhalte unterschätzen.

Zum Beispiel das KI-Problem: Vor ca. 25 Jahren haben die KI-Wissenschaftler definiert: Künstliche Intelligenz haben wir dann erreicht, wenn wir über die Tastatur mit dem Nebenraum ein Gespräch führen und nicht mehr feststellen können, ob sich im Nebenraum ein Mensch oder nur ein Computer befindet. Eine ganz einfache, klare Aufgabenstellung. Gleichzeitig aber eine völlige Unterschätzung der Komplexität menschlicher Sprache. Vor zwei oder drei Jahren haben die KI-Leute offiziell verkündet, daß sie sich von dieser Aufgabe verabschieden, sie ist mit den heutigen technischen Mitteln nicht lösbar.

Ein anderes Beispiel: 1961 gehörte ich zu den ersten Diplom-Ingenieuren des Industriezweigs Polygraphische Maschinen. Zahnstreifen, eine Druckstörung, schon 50 Jahre bekannt, aber nicht zu lösen. Mit einer jungen Gruppe von Ingenieuren weisen wir experimentell nach, es sind mechanische Schwingungen. Dynamik ist die Ursache dieser Störungen. Wir werden von den alten ‘Oberingenieuren’ bis aufs Messer bekämpft. Aber wir haben recht. Die Praxis ist das Kriterium der Wahrheit und wir beseitigen die gefürchteten Zahnstreifen. Aber: Bis 1961 hat der gesamte Industriezweig Druckmaschinen (weltweit !!) nicht gewußt,

daß es nötig ist, dynamische Sachverhalte zu berücksichtigen! Unfaßbar. Man hat nicht damit gerechnet, daß Stahl elastisch ist !! Das kann man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen, aber es ist erst 30 Jahre her!

Der Mensch entwickelt große, technische Systeme, die eine relativ hohe Komplexität besitzen. Atomkraftwerke, der Energieverbund, das Internet, Prozessoren für Computer, das Fernsehnetz, Satelliten, Waffensysteme. Bei allen diesen Systemen treten Fehler auf, ihre Wirkung kann klein bis katastrophal sein. Diese Systeme sind aber in den wenigsten Fällen fehlerresistent. Es ist erstaunlich, daß bisher keine größeren Katastrophen als Tschernobyl passiert sind. Aus meiner Sicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis ähnliche, oder größere Katastrophen wieder passieren, weil wir einfach nicht in der Lage sind, alle Einflußparameter solcher Systeme zu erfassen und zu beherrschen.

Am unsichersten sind aus meiner Sicht Atomanlagen und gentechnische Manipulationen. Was stellt ein Virus auf dieser Erde an, der sich ungehemmt vermehrt und nur Sauerstoff in Wasser umwandelt? Ein ganz einfaches Prinzip, aber plötzlich ist der Sauerstoff alle. Unmöglich? Bei Systemen, die der Mensch erfindet, ist das möglich. In natürlichen Systemen scheint eine ‘Bremse’ eingebaut. Ein Genetiker weiß heute nicht, wie solche ‘Limits’ funktionieren, viel weniger denkt er daran, so etwas einzubauen.

Es ist faszinierend zu beobachten, wie sich natürliche Systeme selbst kontrollieren: Seuchen hören alleine wieder auf, Borkenkäfer überrennen nicht die gesamte Landmasse, würden alle Eizellen, die in einem Korallenriff koordiniert und zeitgleich ausgestoßen werden, befruchtet und zu Leben werden, wäre in kürzester Zeit keine Nahrung mehr da. Solche Katastrophen passieren in der Natur nicht. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß während der Evolution solche Katastrophen stattgefunden haben. Die Katastrophen, die es gegeben hat, wurden von außen ausgelöst: Vulkaneruptionen, Meteorite u.a.

Wie sehen die ‘Begrenzer’ aus, wer hat sie erfunden und wo eingebaut? Wahnsinnig sind auch die natürlichen Zeiträume, in denen diese Regelungen ‘erprobt’ worden sind. Was sind dagegen die 100 Jahre, die wir schon mit dem Auto fahren, die 50 Jahre der Atomenergie oder die 30 Jahre der Gentechnik? Lächerlich.

Zuletzt: Der hoch komplexe Mensch. Am besten funktioniert alles ohne Kopf. Die emotionale Steuerung ist äußerst zuverlässig, in ewigen Zeiten erprobt, die mentale ist labil. Das mentale System steckt noch mitten in der Entwicklung. Wird in 500.000 Jahren was daraus geworden sein ?!

Jürgen Albrecht, 26. November 1997

 

BACK