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Die Freizeitgesellschaft

Mittwoch nachmittag auf dem Alex: Alles voller Menschen. Das gleiche Bild, nur wesentlich mehr Menschen, am Tauentzien und Ku’damm. Ende Mai in Knokke, an der belgischen Kanalküste, im Juli auf der Halbinsel Hela an der polnischen Ostseeküste: Alles voller Menschen in Urlaubsstimmung. Ich schalte den Fernseher zu einer beliebigen Tages- oder Nachtzeit an: Unterhaltung durch Shows, Krimi, Talk, Sport, Film und Trickfilm, ständig unterbrochen durch Werbung, die zu mehr Fun und Konsum auffordert. Reisebüros machen zu jeder Jahreszeit das große Geschäft. Sonderangebote: Fernseher für 400 DM, Busreise mit Werbeveranstaltung, Essen und vielen Geschenken von Berlin an die Ostsee: Umsonst. Gartenzwerge, Nippes, Sets von Kochtöpfen, Messern, Duschgels und Obst: Hauptsache Umsatz, Hauptsache Konsum.

Wer arbeitet denn eigentlich noch? Vor ein oder zwei Jahren hat Kanzler Kohl die ‚kollektive Freizeitgesellschaft‘ und den niedrigen Leistungswillen beklagt. Hier hatte er wirklich recht, diese Gesellschaft will sich nur noch amüsieren. Es geht uns auch so gut, daß wir uns das (fast) alle leisten können. Es gibt eigentlich nur noch ein Problem: Was haben wir denn noch nicht, was können wir uns noch kaufen und was haben wir denn noch nicht gemacht, was gibt uns den Kick, den wir noch nicht hatten??

Diese Einstellung ist aber nur typisch für höchstens 10 % aller Menschen dieser Erde. Nur in den wohlhabenden, hoch entwickelten Zivilisationen ist dieser Trend zur FunGeneration zu beobachten. Alle anderen können sich das nicht leisten, weil sie um ihre einfache Existenz kämpfen und arbeiten müssen.

Es ist eine interessante Frage, wer in unserer Gesellschaft eigentlich noch arbeitet. Hier müßte erst mal geklärt werden, was ARBEIT heute heißt. Das Wesen der Arbeit hat sich bei uns in den letzten 100 Jahren entscheidend gewandelt. Von schwerer körperlicher Arbeit hin zu Kopfarbeit, zu Management, zu Spekulation mit und zur Verwaltung von vorhandener Reichtümern. Immer mehr Menschen können sich diese Art von Arbeit so einrichten, wie wie sie Lust haben. Sie arbeiten nicht täglich von X bis Y, sondern nur dann, wenn es mal sein muß oder sie Spaß daran haben. Auch ich kann eigentlich nicht sagen, daß ich arbeite, wenn ich in Halle bin. Was ich da mache, ist eine Tätigkeit, die mir in hohem Maße Lustgewinn und Erfolgserlebnisse verschafft. Unter Arbeit stelle ich mir immer das Gegenteil vor: Körperlich schwer, unbefriedigend, unter Zwang, der Not gehorchend, frustrierend.

So zu arbeiten hat in den hoch entwickelten Staaten dieser Erde heute kaum noch jemand nötig.  

Der Grund dafür liegt im technischen Entwicklungsstand, der über mehrere Jahrhunderte aufgebauten Infrastruktur und in dem in dieser Zeit angehäuften Reichtum. Auf den kürzesten Nenner gebracht heiß das: Wir arbeiten nicht mehr, wir lassen (in den unterentwickelten Ländern) arbeiten. Wir wissen z.T. überhaupt nicht mehr, daß wir Kohle oder Erdöl brauchen, um eine warme Wohnung zu haben. Wir haben die warme Wohnung, ohne daß wir Kohle oder Erdöl fördern. Das tun andere für uns.

Hier liegen auch die ganz einfachen Gründe für die strukturelle Arbeitslosigkeit in den Industrieländern: Die anderen Länder produzieren billiger, wir brauchen nicht mehr zu arbeiten. Deshalb haben wir aber auch keine Arbeit mehr. Weil der Staat so reich ist, daß wir uns trotz Arbeitslosigkeit Auto, Urlaub und eine warme, trockene Wohnung leisten können, trauern viele der verloren gegangenen Arbeit nicht nach. Im Gegenteil, sie rechnen (seit 40 Jahren!) auf Heller und Pfennig aus, daß es sich ja überhaupt nicht mehr lohnt, irgendeine Arbeit anzunehmen, weil dabei nicht deutlich mehr, als die monatliche Unterstützung vom Sozialamt herauskommt.

Es gibt nur noch ein ‚kleines‘ Problemchen: Es ist schwer, mit einem Leben in Arbeitslosigkeit zufrieden und glücklich zu sein. Das ist ‚nur‘ ein psychologisches Problem. Es fehlen die Erfolgserlebnisse. Das ist um so interessanter, als wir eigentlich heute das erreicht haben, was Marx wollte: Es besteht keine Notwendigkeit mehr, zu arbeiten. Trotzdem kann jeder gut leben. Eine spezielle Art von Kommunismus ist erreicht. Allerdings sieht der völlig anders aus, als Marx es erwartet hat.

Gerade habe ich Conny erklärt, daß das Verdrängen von Realitäten eine ganz wesentliche Kulturtechnik unserer Gesellschaft geworden ist. Uns geht es gut, das reicht. Wie aber geht es den Bauern in Nepal, wie lange reichen die Kohlevorräte, wie schnell wir der Regenwald abgeholzt, damit wir alle Küchenbrettchen aus Teakholz haben, wie fühlt sich mein kranker Nachbar, wer hilft den Menschen, die durch die Überschwemmung im Oderbruch alles verloren haben, wieviel Chinesen haben in 50 Jahren ein Auto und duschen sich täglich usw. ... Das sind zwar alles sinnvolle und wichtige Fragen, aber die stellt man in unserer Gesellschaft nicht. Denn mit diesen Fragen werden Tabus berührt und die Gesellschaft selbst in Frage gestellt. Im Gegensatz dazu ist es aber völlig normal und absolut berechtigt, nach dem nächsten ‚Event‘ zu fragen.

Jürgen Albrecht, 03. August 1997

 

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