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Clara, die weltbereiste ...

Es ist schon wieder Sonntag, die Zeit rast. Morgen muß ich nach Halle. In vier Wochen ist Weihnachten und das Jahr ist um. Ich unterbreche die Schreiberei am Nepal-Report, in ein paar Tagen werde ich damit fertig werden, es wird endlich Zeit. Mit dem Fahrrad war ich eine Stunde unterwegs. Es ist ungemütlich draußen, naßkalt, keine Sicht, schon um 16 Uhr wird es jetzt dunkel.

Eine Tasse Kaffee, dabei blättere ich die Zeitung durch, die ich mitgebracht habe. Heirat, Partnerschaft, heute ist ja Sonntag. Warmherzige Akademikerin ... Gibt es in dieser Gesellschaft noch Warmherzigkeit? Wohl nur in der Familie. Kann eine Gesellschaft warmherzig sein? Ich glaube, auch das ist Illusion, keine hochtechnisierte Gesellschaft kann das leisten. Aber es ist ein fast aus der Mode gekommener Wert. Wer kann von sich sagen, daß er ein warmherziger Mensch ist? Was ist das für ein Mensch? Was muß man dafür tun? Bin ich warmherzig? Mir wird buchstäblich warm ums Herz, wenn ich an Conny denke – eigentlich wollte er mich ja heute besuchen kommen. Warmherzig hat viel mit Anteilnahme, Liebe, Mitgefühl und Emotionen zu tun. Ja, Conny und ich, das ist Liebe und Warmherzigkeit. Aber eine warmherzige Akademikerin? Eigentlich geht das nicht. Ein Opa ist warmherzig und eine Oma. Ein Akademiker ist einer, der emotionslos die Klimastatistiken nach Korrelationen durchforstet. Nach Feierabend kann der Akademiker dann warmherzig seinen Enkel begrüßen, aber beides sind völlig unterschiedliche Welten.

Und schon hat mich diese Anzeige wieder zu Überlegungen angeregt, die ich in meinem Nepal-Report gerade unterbrochen habe. Wer schreibt eine solche Anzeige, wer kann mit ruhigem Gewissen von sich behaupten, wirklich gebildet zu sein, was heißt weltbereist? Was erwartet die mehrsprachige, frankophile Dame von ihrem gesuchten Partner? Sie will mit ihm zusammen die Kunst des Lebens genießen. Die Kunst zu leben? Die Kunst zu genießen, daß man lebt? Die Kunst des Genießens? Oder alles gleichzeitig? So viele interessante Fragen und ich habe zu tun! Und jetzt schreibt sie noch, daß sie Schicki-Micki und Reichtum nicht interessiert, sondern Zuverlässigkeit, Großzügigkeit und Esprit. Das sind alles so schön unscharfe Begriffe, die zusammen genommen einen dicken Roman ergeben könnten.

Die junge, selbstbewußte Clara ging auf die Universität. Hier endlich war der Freiraum, den sie sich so lange schon erhofft hatte. Sie studierte Germanistik, romanische Sprachen und Jura an verschiedenen Universitäten.

Sie heiratete und ging mit ihrem Mann für einige Jahre nach Südostasien. Sie ist fasziniert von der Inselwelt des Pazifischen Ozeans, vom Norden Australiens, den indonesischen Inseln und von Japan. Über China und die Mongolei kommt sie wieder nach Deutschland zurück. Die Kinder nehmen ihre Zeit in Anspruch, der Mann geht in den Geschäften auf und unter. Plötzlich sind dreißig Jahre vergangen und die entscheidende Frage lautet: Was mache ich mit der Zeit, die mir noch bleibt? Die Schlüsselfrage. Wer kann sie beantworten? Kaum einer, aber mit einem Partner kann man diese Frage wenigstens diskutieren. Wie komme ich wenigstens an einen Menschen heran, mit dem man sich vernünftig unterhalten kann? Der Tagesspiegel ist die Rettung. Happy End!

Und was habe ich damit zu tun? Nichts. Ich suche keine Frau, keinen Partner. Mit meiner Kunst zu leben bin ich zufrieden, ich bin mit mir im Reinen. Leider war ich noch nie in der Camargue, ich kann kein französisch und englisch und russisch auch nur mehr recht als schlecht. Ich wäre gern mehrsprachig, aber ich hatte dazu bisher einfach zu wenig Zeit. Auch würde ich von mir nicht öffentlich behaupten, daß ich wirklich gebildet bin. Ich weiß nicht wie ein Mensch aussieht, der das von sich sagen kann. Ich weiß nur, daß ich vieles um mich herum nicht verstehe. Aber gerade das ist spannend, wie rätselhaft die Natur ist. Je tiefer man sieht und denkt ... es gibt viel mehr Fragen als Antworten. Schicki-Micki ist klar, aber man kann leicht sagen, daß einem Reichtum nichts bedeutet, wenn man alles hat. Interessant ist aber wieder, daß Großzügigkeit überhaupt nichts mit Besitz und Geld zu tun haben muß. Großzügigkeit ist eine Lebensart und hat viel mit der Kunst zu tun, dieses faszinierende Leben zu lieben. Großzügigkeit kann fast ein Schlüsselbegriff für die gesamte Haltung zum Leben sein. Es kann auch Toleranz bedeuten, Freizügigkeit und vor allen Dingen das Gegenteil von Engstirnigkeit. Zuverlässigkeit ist rar in einer Gesellschaft, in der Lüge, juristische Finessen und Geschäft zusammen gehören und fast der komplette Lebensinhalt sind, trotz christlicher und abendländischer Kultur. Aber bei Esprit, Kreativität und der anderen Bedeutung von Finesse, da müssen wir Deutschland verlassen. Dafür ist es hier – und nicht nur im November – zu kalt. Auch und gerade in Seele und Geist.

So, jetzt muß ich aber wirklich wieder was tun. Die Zeit läuft mir durch die Finger. Aber kann man sie besser nutzen, als zu solchen Überlegungen bei Kaffee und einer Zeitung?

Jürgen Albrecht, 23. November 1997

 

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