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Freispruch für Angela

Deutschland ist mit Recht stolz darauf, ein Rechtsstaat zu sein. Was heißt das? Das heißt positiv, daß alles erlaubt ist, was nicht per Gesetz verboten ist und negativ, daß alle Spielregeln des täglichen Lebens einschließlich lächerlicher Details per Gesetz festgelegt sind.

Allerdings hinkt der Rechtsstaat der Realität immer hinterher, denn erst muß das Leben Fakten und Konflikte schaffen, dann werden sie per Gesetz geregelt. Die gesamte Computertechnik einschließlich Internet ist also noch ein weitgehend rechtsfreier Raum, die dort auftretenden Konflikte sind neu und keiner hat Erfahrungen, wie man damit umgeht. Der Staat ist verunsichert, besonders durch das Internet. Hier passiert vieles, was in anderen Medien verboten ist. Stichworte sind: Kinderpornographie, Rechtsradikalismus, steuerfreie Geschäfte und nicht knackbare Verschlüsselungstechniken. Das paßt dem Staat nicht und er möchte es regeln, weil er sein Machtmonopol verletzt sieht.

Um auch hier seine Muskeln zu zeigen, hat er sich Angela Marquard ausgesucht. Weit und breit eine der wenigen jungen PDS-Anhängerinnen und Vorstandsmitglied in der PDS. Die Nachfolger der SED sind diesem Staat natürlich ein Dorn im Auge (mein Zorn ist weitestgehend verraucht, ich denke, das Ende ist biologisch programmiert). Endlich ergibt sich eine Gelegenheit, Recht und Gesetz auch gegenüber dieser Partei zum Durchbruch zu verhelfen: Angela hat eine HomePage und in der hat sie einen Link zur (verbotenen?) Zeitung RADIKAL oder deren HomePage installiert. 'Das ist strafbar !!' schreit der Staatsanwalt und Angela wird vor den Richter zitiert. Das Verfahren zog sich wie üblich Monate in die Länge. Vor ein paar Tagen gab es einen 'Freispruch zweiter Klasse'. Der Staat hat Berufung angekündigt.

Die gegenwärtige Rechtslage: Content-Provider sind für den Inhalt ihrer eigenen Angebote nach den allgemein gültigen Gesetzen verantwortlich. Für fremde Angebote, die sie vermitteln, gilt das nur insoweit, wie sie sie kennen und deren Nutzung verhindern können. Access-Provider vermitteln nur Angebote, sie haften überhaupt nicht. Angela ist als Access-Provider anzusehen. Details sind nachzulesen: PC Magazin, September 1997, Seite 76 ff.

Interessant an der Sache ist nicht die PDS oder Angela. Für mich ist interessant, wie ahnungslos Gesetzgeber und Justitia sind, wenn es um die neuen Technologien geht. Erstens ist kein Beamter fachlich kompetent und keiner weiß, um was es technisch überhaupt geht. Zweitens ist dieses Medium mit den bisherigen juristischen Tatbeständen einfach nicht zu behandeln. Der zweite Aspekt ist sehr schön an der Argumentation vor Gericht zu erkennen. Die Tatbestände, die z.B. für die Printmedien gelten, greifen im Internet nicht.

Deshalb ist der wichtigste Gesichtspunkt: Leute, die über das Internet urteilen wollen, müssen erst mal die Funktion dieser neuen Technologie begreifen. Und wenn man sie begriffen hat, fängt das Dilemma vielleicht erst richtig an, denn dann merkt der Staat, daß hier seiner Regelungswut einfach physikalische Grenzen gesetzt sind.

Der entscheidendste Gesichtspunkt besteht darin, daß das Internet global fungiert. Es ist im höchsten Grade autonom und störfrei und es ermöglicht ein Maß von Anonymität für die User, das kein bisheriges Medium besitzt. Diese Eigenschaften sind diesem Medium immanent. Es gibt keine Schraube, mit der man diese Eigenschaften willkürlich verändern kann.

Wie fast alles, hat auch das Internet militärische Wurzeln. Die Amerikaner suchten in den 70-er Jahren nach einem Kommunikationssystem, das auch noch nach dem Atomkrieg funktionieren sollte. Die Stabilität der Kommunikationswege wird durch eine ungeheure Redundanz erzeugt. Fällt eine Leitung aus, gibt es tausend andere Leitungen, mit denen man den gesuchten Server (Computer mit Informationsangeboten) erreichen kann. Fällt ein Server aus, steigt automatisch ein gespiegelter Server ein, der an einer völlig anderen Stelle stehen kann. Wird eine Adresse zensiert, hat der Zensor kaum eine Chance, den Standort der Adresse weltweit zu lokalisieren. Schafft er das tatsächlich und schaltet diesen Server aus, dann übernimmt ein anderer Server fast automatisch dessen Angebote.

Weil das Internet genau so funktioniert und sich seine zukünftige Entwicklung inzwischen jedem menschlichen, regulierendem Einfluß entzogen hat, muß man mit dem Internet genau so leben, wie mit Sonne und Regen. Hier hat der Mensch etwas in die Welt gesetzt, das ein dominantes Eigenleben entwickelt und nicht mehr zurück zu holen ist. Keine Besonderheit, sondern ein exemplarischer Fall für die Eigendynamik der meisten, vom Menschen ausgelösten technischer Entwicklungen. Sie werden zwar vom Menschen initiiert und angeschoben, es kommt aber der Punkt, wo der menschlichen Zivilisation (von einzelnen Staatsanwälten, Interessengruppen oder Staaten ganz zu schweigen) die Entwicklung aus der Hand gleitet. Danach ist sie weder zu steuern noch zu beeinflussen. Die Beispiele dafür sind zahllos: Energiegewinnung aus fossilen Brennstoffen, Abholzung der Tropenwälder, Chemisierung, Gentechnik usw.

Das Internet besitzt in dieser Hinsicht also keine neue Qualität. Es ist aber ein sehr schöner Fall um exemplarisch zu beobachten, wie hilflos der einzelne Mensch und auch ein einzelner Staat der unaufhaltsamen technischen Entwicklung gegenübersteht. Das hat der Rechtsstaat noch nicht begriffen.

Jürgen Albrecht, 16. August 1997

 

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