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Nach 52 Jahren wieder Telefon

Bis 1944 stand in Spindlersfeld, Gloriastraße 12, ein schönes Haus. Ein Einfamilienhaus im Stil dieser Villensiedlung, gebaut 1938. In einer der vielen Berliner Bombennächte fiel eine Bombe auf dieses Haus. Seitdem gibt es dort kein Einfamilienhaus und auch kein Telefon mehr. Nach dem Untergang des Dritten Reiches wurde mindestens 10 Jahre an der Ruine nichts gemacht. In den 50-er Jahren enttrümmerte Herr März das Gelände, zog wieder einen Zaun um das Grundstück, errichtete über einem Teil des ehemaligen Kellers eine massive Decke und ein Notdach. Was er dort eigentlich bauen wollte, ist bis heute unklar.

Im Frühling des Jahres 1971 spazierte Herr Albrecht durch die Gloriastraße. Ich hatte gerade bei Ra- tioprojekt angefangen zu arbeiten und wohnte in einem möblierten Zimmer in Köpenick. Die Familie wartete in Leipzig auf den Umzug. Ich war auf der Suche nach einem Baugrundstück, denn ich hatte die illusionäre Hoffnung, für meine 'kinderreiche Familie' ein Haus zu bauen. Die Gegend gefiel mir. Einige Wochen später las ich der Zeitung, daß in Spindlersfeld etwas zu verkaufen war. Ich bemühte mich darum und hatte Glück: Mit dem Geld meines Vaters kaufte ich Herrn März die gut erhaltene Ruine (die ihm nicht gehörte!) für 17.000 Mark der DDR ab, damals eine Riesensumme. Damit erwarb ich das Recht, in den Pachtvertrag von Herrn März für dieses Grundstück einzutreten. Ein Jahr später stellte mir RatioProjekt auf der Fischerinsel eine 4-Zimmer-Wohnung zur Verfügung. Das war wie ein Sechser im Lotto und die Familie zog von Leipzig nach Berlin.

Mit dem Eigenheimbau wurde es nichts, denn erst mit vier Kindern war man für die DDR-Behörden ‚kinderreich'. Aber wir enttrümmerten das Grundstück und schaufelten die Ruine von drei Seiten frei. Dabei fanden wir auch das Telefonkabel. Als nach ein oder zwei Jahren das Grundstück notdürftig als 'Datsche' benutzbar war, stellte ich 1974 den ersten Antrag für eine Telefonanschluß. 'Absolut keine Möglichkeit'!' Es nützte auch nichts, daß ich inzwischen bei RatioProjekt ein wichtiger Mann geworden war, für einen Telefonanschluß reichte das alleine noch lange nicht aus.

Fast 10 Jahre dauerte es, bis ich auf den halben Keller mit der Kellerdecke auch noch vier Wände und ein Flachdach gebaut hatte. Keine Zeit, kein Geld, keine Bilanzen (Bezugsscheine). An jedem Sack Zement, an jedem Stück Holz und an jedem Abflußrohr hängt eine lange Beschaffungs Story. Aber 1983 war es so weit: Richtkrone, Fete, ein Jahr später Putz und ein schönes Haus war fertig. Zu groß als Gartenlaube, zu klein für eine Familie mit drei Kindern. Wir zogen über den Sommer dort am Wochenende ein und legten unsere Bäuche in die Sonne. 'Telefon?' ... überhaupt nicht daran zu denken.

 

Im Jahr 1986 ging es nicht mehr, ich zog aus der gemeinsamen Wohnung aus und nach Spindlersfeld. Für gut drei Jahre war das nicht heizbare Haus meine und zeitweise auch Peters Wohnung. Eine Gasheizung konnte ich mit vieler Mühe realisieren ... eine lange Story für sich, aber Telefon: Keine Chance. Anträge, Begründungen, dringende Befürwortung durch den Betrieb, ein Haufen Schriftverkehr. Alles umsonst. Telefon und DDR paßten absolut nicht zusammen.

Im Mai 1989 bekam ich eine Wohnung in der Leipziger Straße. Auch wieder ein Hauptgewinn! Aber Telefon nach Spindlersfeld: Unmöglich. Ich zog aus, das schöne, kleine Haus stand ein halbes Jahr leer, dann war Stefan mit dem Studium fertig und er zog in Spindlersfeld ein. Eine ideale Behausung für einen einzelnen Herrn. Aber ohne Telefon.

Inzwischen existierte die DDR nicht mehr und er stellte neue Anträge, bezog sich auf die alten, rührte und drehte daran. Mehr als eine schriftliche Bestätigung, daß er einen Antrag gestellt hat, war nicht zu bekommen. Jahre, nachdem aus der DDR die neuen Länder der Bundesrepublik geworden waren, bewegte sich etwas. Kabelgräben wurden ausgehoben, Kabelrollen standen am Straßenrand, 'Telekom' stand auf den dicken, schwarzen Kabeln. Dann lagen die Kabel in der Erde und still ruhte wieder der See.

Stefan telefonierte, schrieb Anträge, es rührte sich nichts. Anfang 1996 bekam ein Haus in der Siedlung einen Telefonanschluß. Stefan wie elektrisiert, nahm wieder seine bisher erfolglosen Kontakte zur Telekom auf. Inzwischen bestritt dieses famose Unternehmen, daß überhaupt ein Antrag existierte. An die Realisierung des nicht existierenden Antrages war natürlich nicht zu denken.

Stefan kämpfte sich von unten durch die Telekomhierarchie. Vor drei Wochen schrieb er einen von vielen Beschwerdebriefen, der wohl endlich den richtigen Chef erreicht hat. Am Montag habe ich das erste Mal mit ihm in Spindlersfeld telefoniert. Am vergangenen Freitag wurde er mit der Nummer 6559239 und der Mitteilung beglückt, er solle am Montag zu Hause bleiben, dann werde diese Nummer frei geschaltet.

Stefan blieb zu Hause, aber es kam niemand. Dafür funktioniert das Telefon seit diesem historischen Freitag, 8 Uhr. Zwölf Stunden später rief ein Mann der Telekom an: 'Gibt es noch Probleme?' Nein, nach 52 Jahren kann man auch von Spindlersfeld aus wieder telefonieren.

Manche Dinge dauern eben etwas länger.

Jürgen Albrecht, 24. September 1996

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