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Werkzeuge zum Schreiben

Der Mensch kann seit ein paar Jahrtausenden schreiben. Schreiben ist heute so selbstverständlich wie die Werkzeuge zum Schreiben. Ohne Werkzeug geht nichts. Man braucht Schreibmaterial, auf dem man schreibt und das Werkzeug, mit dem man sichtbare Spuren auf dem Schreibmaterial hinterlassen kann. Schreiben ist eine Kulturtechnik, es setzt eine gewisse Entwicklungsstufe der menschlichen Kultur - Bildung und hoch entwickelter Werkzeuggebrauch - voraus.

Hunderttausende von Jahren hat es gedauert, bis der Mensch sich von den Felswänden als Schreibmaterial gelöst, bis er transportable Schreibmaterialien entwickelt hatte. Zuerst waren das sicher kleine Steine oder Knochen. Blätter waren zu unbeständig, da war die Haut von Tieren schon besser. Aber welch ein weiter Weg bis zum ersten Papier der Ägypter und Chinesen. Erst im digitalen Zeitalter gab es die Illusion, Papier durch Disketten oder CD's abzulösen: Das papierlose Büro. Neben dem Papier in jeder Form nimmt die Bedeutung digitaler Trägermaterialien zu. Papier aber wird es als Schreibmaterial geben, solange diese menschliche Hochkultur existiert.

Ganz anders sieht es mit den Schreibwerkzeugen aus. Wieder hundertausende von Jahren vergingen, bis aus einem weichen Stein, dem verkohlten Stock, dem zerfaserten Stengel, die Schreibfeder und der Pinsel wurde. Weitere zweitausend Jahre, bis der Bleistift erfunden war. Goethe hat mit Bleistift, Schiller mit dem Gänsekiel geschrieben. Das ist zweihundert Jahre her. Vor 100 Jahren setzte mit der Erfindung der Schreibmaschine eine weitere Revolution der Schreibwerkzeuge ein. In diesen letzten einhundert Jahren wurden Techniken entwickelt, die das Schreiben des Menschen auf die bisher letzte Entwicklungsstufe angehoben hat.

Damit kann man bei der Entwicklung des Schreibens drei qualitativ unterschiedliche Stufen beobachten: Gedanken/Text/Bild unverrückbar (an der Wand), Gedanken/Text/Bild transportabel, aber unlösbar mit Trägermaterial verbunden und Gedanken/Text/Bild lösgelöst vom Träger, ein eigenständiges Objekt.

Die letzte Stufe ist nur mit dem Computer zu erreichen. Im Computer werde Texte und Bilder zu frei manipulierbaren, editierbaren Objekten. Aber diesen Status besitzen sie nur im digitalen Zustand und im Computer. In der Realität sind Gedanken/Text und Bild weiterhin nicht von ihrem Träger zu lösen (auch nicht im Computer!). Die Natur der Information lässt das nicht zu. Aber der Zustand dieser Objekte im Computer ist vergleichbar mit den Gedanken in unserem Gehirn. Auch dort und nur dort sind wir in der Lage, mit Gedanken, Texten und Bildern völlig anders umzugehen, als ausserhalb unseres Kopfes.

 

Welche gravierenden Vorteile das hat, erkennt man bereits bei einem Software System für die ‚Textverarbeitung'. Der Qualitätsunterschied liegt nicht in einer nochmaligen Geschwindigkeitssteigerung gegenüber der Schreibmaschine. Entscheidend ist die totale Verfügbarkeit des geschriebenen Textes. Er kann korrigiert, formatiert und inhaltlich verändert werden. Das ist möglich, weil der Text im Computer als digitales Modell existiert. Dieses Modell ist manipulierbar und ermöglicht so die vielfältige Textgestaltung. Das Modell kann jederzeit auch wieder 'fixiert' werden,wenn es 'ausgedruckt' wird. Dabei gibt es beim Trägermaterial kaum Grenzen: Papier, Kunststoff, Glas, Metall, Flaschen, T-Shirts, Häuserwände... Fast alles ist möglich.

Diese Technologie bis zur heutigen Reife zu bringen hat 25 Jahre gedauert, rechnet man die Erfindung des Personal Computers mit. Was sind das für Zeiten gegenüber denen, die bis zur Erfindung des Bleistifts nötig waren? Aber diese faszinierende digitale Technologie besitzt einen gewaltigen Nachteil: Ohne Computer ist der digitale Text nicht lesbar, nicht einmal ohne Monitor oder Drucker. Und wenn keine Steckdose existiert, ist alles aus. Der Text ist verloren.

Dazu kommt der Verlust durch technischen Fortschritt, durch moralischen Verschleiss. Er tritt fast zwangsläufig in einem Zeitraum von nur fünf Jahren ein, weil sich in dieser Zeit Computer, periphere Geräte und Software so extrem weiterentwickelt haben, daß alte Disketten nicht mehr lesbar sind und alte Festplatten in neuen Computern nicht mehr zum Laufen gebracht werden können. Was dann nicht ausgedruckt ist, existiert nicht mehr.

Die Störanfälligkeit dieser neuen Techniken und ihre Abhängigkeit von äußeren Bedingungen nimmt genauso dramatisch zu, wie ihre Effektivität. Ein kurzer Stromausfall vernichtet ungespeicherte Texte, Computer stürzen ohne ersichtlichen Grund ab, Disketten und CD's altern und sind allein dadurch schon nach zehn Jahren nicht mehr sicher lesbar.

Damit schließt sich der Kreis. Die Schreibtechniken sind nur ein Beispiel für den in den letzten hundert Jahren zu beobachtenden, zwanghaften Wandel der menschlichen Kulturtechniken. Es geht alles besser, schneller, komfortabler und billiger. Gleichzeitig aber stehen Großstädte unmittelbar vor dem Kollaps, wenn nur der Strom für eine Stunde ausfällt.

Der faszinierend schöne Schein von HighTech und der vielen technischen Geräte ist trügerisch. Eines ist die gesamte Technik unserer Gesellschaft besonders:
Sie ist labil.

Jürgen Albrecht, 06. Januar 1996

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