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Abstecher nach Polen 2/2

Wirklich traurig ist der Zustand der alten Gebäude und der ehemals gepflegten Kurpromenade. Einzelne Gebäude sind restauriert und erweitert. Aber von der Blütezeit, die Swinemünde um die Jahrhundertwende erlebte, ist die Stadt heute weit entfernt. Nur mit Mühe kann man Reste der damaligen Pracht noch erkennen: Am besten auf den alten Bildern und Postkarten im Museum. Die Seebrücken am Strand und das Kurhaus sind verschwunden, die ehemaligen Gartenanlagen zwischen Promenade und Strand sind von Bäumen und Büschen überwuchert. Von der Promenade, auf der wahrscheinlich noch der alte, deutsche Plattenbelag liegt, kann man die Ostsee nicht mehr sehen. Die Stichwege zum Stand sind unbefestigt, tiefer Sand. Mit dem Rollstuhl ist der Strand nicht zu erreichen. Auf den alten Postkarten sieht man, daß vor 100 Jahren dort Holzstege existierten. Die kann man in Ahlbeck heute wieder besichtigen. In Swinemünde noch nicht.

Alles was in Swinemünde von Hafen, Stadt und Villenviertel noch existiert, stammt aus der deutschen Zeit. Krieg, Sozialismus und die russischen Besatzer haben nicht viel übrig gelassen und die Marktwirtschaft in Polen hat noch nicht Tritt gefaßt. Wenn die Deutschen wegen dieser Situation über Polen die Nase rümpfen, so ist das zu kurz gedachter Nationalismus. Es ist nicht primär eine Frage von deutscher oder polnischer Wirtschaft oder der unterschiedlichen Mentalität, sondern eine Frage der finanziellen Leistungskraft der Kommunen. Und daß Swinemünde kaum Geld hat, sieht man überall. Es herrscht eine Mangelwirtschaft, die wir zur Genüge aus DDR-Zeiten kennen. Wie deckt man ohne Geld ein Dach? Das sollten sich die fragen, die offensichtlich schon nach ein paar Jahren vergessen haben, wie es uns in Deutschland bis 1989 gegangen ist.

 

Aber es gibt auch deutliche Unterschiede zur DDR. Der polnische Zloty ist konvertierbar. Ein entscheidender Wirtschaftsfaktor ist offensichtlich der legale und illegale Handel zwischen Polen, Deutschland und Rußland.

Die meisten Autos auf den Straßen stammen aus Deutschland. Fünf Jahre alte VW, Opel und BMW. Ich habe nicht einen Trabant mehr in Swinemünde gesehen - aber in Ahlbeck! Nur noch wenige Wartburg und Lada. Einige Polen haben es aber auch zum neuesten Mercedes gebracht. Und im Kapitalismus gehört es zum guten Ton, nicht danach zu fragen, wie, wann und womit man das Geld verdient hat, das man hat und das man zeigt.

Der Handel blüht offensichtlich mehr im Kleinen als im Großen und mehr schwarz als legal. Zu der Überzeugung kann man kommen, wenn man die unzähligen Marktstände sieht, die es allein in Swinemünde gibt. Es entwickelt sich auch der berühmte Mittelstand, der angeblich das Rückrat der Wirtschaft ist. Überall wird repariert, gewerkelt und produziert. Auch wenn die Produkte nicht nach Westen zu exportieren sind, verglichen mit Rußland geht es den Polen offensichtlich deutlich besser.

Mit der Zeit werden auch die Polen feststellen, daß man mit Klasse mehr verdienen kann, als mit Masse. Dann wird es auch feine Hotels und Restaurants für die Touristen geben, die nicht nach Schinken und Bier am Straßenstand, sondern nach einer deutschen Zeitung suchen. Diese Touristen gibt es derzeitig kaum. Vielleicht war deshalb in ganz Swinemünde nicht eine deutsche Zeitung aufzutreiben ... einen Kilometer von der deutschen Grenze entfernt.

Jürgen Albrecht, 31. August 1996

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