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Online im Sommer 1996

Heute ist Donnerstag, der 20. Juni 1996. Die Sonne hat den höchsten Stand erreicht und ist in Berlin vor 10 Minuten untergegangen, um 21 :33 Uhr, um exakt zu sein. Heute ist der Julian Day 2450255. Vor genau so vielen Tagen hat nach dem Glauben der Christen der Liebe Gott diese Welt erschaffen und genau an diesem Tag mache ich den ersten Schritt ins Internet.

Die ganze Internet-Problematik ist in den letzten zwei Jahren akut geworden. Es ist klar, daß ein großer Teil aller Kommunikationen in Zukunft über Computer und Internet laufen wird. Beschaffung von Informationen, Recherche, Übermittlung von Nachrichten, Teilnahme an Newsgroups, Softwarebeschaffung, Shopping und Unterhaltung, alles das geht heute schon über das Netz. Aber die Netzgemeinde in Deutschland und Europa ist noch klein und elitär. In den USA, wo auch die Anfänge liegen, sieht es besser aus. Aber auch dort ist man von einer einer massenhaften Verbreitung des Internets (ähnlich TV) weit entfernt. Internet ist in Amerika 'in'. Es ist chick, eine E-mail Adresse zu haben und ganz coole Yuppies im Silicon Valley schreiben ihre Internetadresse an das Nummernschild ihres Autos. Weltweit wird in die totale Verkabelung investiert und es tauchen immer mehr Provider auf, die in der Zukunft hier das große Geschäft sehen. Ich bin ziemlich sicher, daß in zwanzig Jahren die Nutzung von Computer und Internet genauso selbstverständlich sein wird wie heute der Griff zum Telefon.

Mit dieser Überzeugung habe ich mich entschlossen, meine Berliner Wohnung über den Computer mit dem weltweiten Datennetz zu verbinden. In Halle hänge ich seit einem halben Jahr schon mit dem Rechner auf meinem Schreibtisch am Internet. Allerdings habe ich es bisher kaum genutzt. Der Grund ist simpel: Wir haben im Medienzentrum nur eine provisorische Netzanbindung mit 9,4 kbps, das ist entsetzlich wenig. Der Aufbau einer Webseite dauert bis zu drei Minuten, und das nervt. Besonders langsam ist das Ganze, wenn viele Studenten surfen. Gut geht es nach 22 Uhr, wenn man alleine ist. Aber in diesen Tagen wird das Medienzentrum an ein eigenes Backbone angeschlossen, dann fahren wir mit 2mbps auf der Datenautobahn, das wird man privat nie erreichen.

Heute wurde bei mir ein ISDN-Anschluß installiert. Das ist der erste Schritt, die Voraussetzung, um sich privat ins Internet einzuklinken. Jetzt muß eine Telefonanlage Eumex 306 an diesen Anschluß gehängt werden, dann habe ich je vier digitale und analoge Anschlüsse und drei Rufnummern zur Verfügung. An diese Anlage schließe ich ein Telefon (Philips, digital), ein Fax (Cannon, analog) und einen Computer (Pentium 133) an. Für den Rechner brauche ich noch eine ISDN-Karte und das dazugehörige Kabel. Dann geht's los, Übertragungsrate 64 kbps. Als Browser benutze ich Netscape Navigator 2.0, E-Mails werden mit EUDORA verschickt. Seit acht Wochen habe ich eine E- Mail-Adresse: albrecht@burg-halle.de. Am 17.04.96 habe ich um 8:40 Uhr Stefan von Halle aus die erste Mail in die Charité geschickt. Seitdem haben wir eine stabile Verbindung.

 

Was kostet das? Nur die heutige Installation kostet 250 DM. Das ISDN Telefon wurde heute für 299 DM gekauft. Die Telefonanlage wird in der nächsten Woche für 750 DM geliefert. Die ISDN-Karte für den Rechner war der schwierigste Part an der Sache, denn mein Rechner läuft unter Windows NT und dafür gibt es erst wenige ISDN- Karten und kein KnowHow. Die Karte, die problemlos mit NT funktioniert, kostet 1900 DM !! Mit viel Mühe habe ich die FRITZ!CARD für 199 DM zum Laufen gebracht. Zur Investition von 1.500 DM kommt jetzt monatlich eine Grundgebühr von 51 DM und dann noch die Gebühren für Telefongespräche und das Surfen im Internet. Da kommen noch einmal 50 DM schnell zusammen.

Der schwiegigste Akt war die Installation der ISDN-Karte. Endlose Telefongespräche und Versuche mit dem Hersteller! Deswegen bin ich online und voll funktionsfähig erst seit dem 1. August 1996.

Für die private Nutzung ist Internet in Deutschland noch viel zu teuer!! Wäre ich nicht für meine Studenten von Beruf aus neugierig, hätte ich auch keinen ISDN-Anschluß. Diese Technik und ihre Nutzung steckt für Privathaushalte noch in den Kinderschuhen. Das Internet wird heute von nicht mehr als einem Prozent der PC-Besitzer genutzt.

Trotzdem kann man bereits im Internet einkaufen gehen. Von Software über die Urlaubsreise bis zu Möbeln kann man online Shoppen. Die Frage ist nur, wie! Es gibt noch kein 'Internet Geld' und das Medium ist weitestgehend auf Text beschränkt, aufgelockert durch Farbe und briefmarkengroße Bilder. Sobald man größere Bilder, bewegte Bilder und Sound haben will, reicht ein ISDN-Anschluß mit maximal 64 kbps absolut nicht aus. Und diese Geschwindigkeit wird nur selten erreicht, weil jeder Server, stark frequentiert, zum Nadelöhr wird.

Das große Geld werden die Anbieter von digitalen Diensten und die Eigentümer der Netze dann machen, wenn Herr und Frau Normalverbraucher sich nicht mehr aus ihren Sesseln erheben müssen, wenn sie irgendein Bedürfnis haben. Aufs Klo wird man noch selber gehen müssen und gefüttert werden wird man vom Bildschirm in den nächsten zwanzig Jahren wohl auch noch nicht. Aber sonst wird alles via Monitor frei Haus geliefert werden: Von Software bis Hardware, von Gemüse bis zur Immobilie und von Kinderpornographie bis zum perfekten Mord und zur virtuellen Urlaubsreise.

Das einzige, was heute noch unklar ist, betrifft die Schnittstelle zur virtuellen Welt. Heute steckt alles noch sehr in den Anfängen und es ist nicht abzusehen, wieweit die Technik in der Lage sein wird, die menschlichen Sinnesorgane indirekt oder direkt (!) digital anzusprechen. Aber gerade von der Qualität der emotionalen Ansprache der Nutzer vor dem Monitor wird abhängen, in welchem Maße digitale Dienste über das Internet diese Zivilisation in den nächsten Jahrzehnten verändern werden.

Jürgen Albrecht, 20. Juni 1996

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