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Am seidenen Faden

Der Wecker klingelt, es ist 5:55 Uhr. Schrecklich. Ich muß nach Halle fahren. Das erste Mal in diesem Neuen Jahr. Vierzehn Tage konnte ich ausschlafen. Rasieren, Frühstück, Radio, müde. Anziehen, Schuhe, Licht aus. Ich gehe aus dem Haus. Kein Eisregen wie gestern, aber immer noch glatt, um Null Grad. Werden die Tage schon länger, ist es schon heller, als vor Weihnachten um diese Zeit? Keine Spur.

Um 6.40 Uhr stehe ich in der U-Bahnstation Spittelmarkt und warte auf die Bahn in Richtung Alex. Der Gegenzug kommt. Warum ist der Zug so voll? Auch auf meinem Bahnsteig stehen viele Leute. Vielleicht ist ein Zug ausgefallen. Während ich mir verschlafen solche Gedanken mache und die Leute einsteigen, sehe ich im linken Augenwinkel, ohne daß ich dort wirklich hingucke, wie eine Frau mit hellem Mantel vom Bahnsteig in die Lücke zwischen dem ersten und dem zweiten Wagen fällt. Kopfüber, lautlos.

Es dauert einige Sekunden, bis mir die Situation klar ist: Alle sind eingestiegen. Kein Mensch ist mehr auf dem Gegenbahnsteig. 'Zurückbleiben bitte!' Die Stimme aus dem Lautsprecher. Ich renne los, erreiche den Triebwagen, trommle mit beiden Fäusten an die Scheiben, habe ich geschrien? Jedenfalls fährt der Zug nicht los, der Fahrer guckt mich fassungslos an. Türen des Zuges öffnen sich, Leute rennen, Männer aus dem ersten Wagen ziehen die Frau wieder auf den Bahnsteig. Sie setzen die Frau auf eine Bank, steigen wieder ein. Andere fragen mich etwas. 'Zurückbleiben bitte!' Der Zug fährt ab. Für mich passiert das alles rasend schnell und völlig tonlos. Seltsam.

Ich bin immer noch da vorn, wo gerade noch der Triebwagen stand. Die Frau auf der Bank, 10 Meter weg. Mein nächster Gedanke: 'Ist meine Tasche noch da ?'. Ich sehe sie auf der anderen Seite der Bank stehen, im Rücken der Frau. Ich komme näher. Sie ist weiß im Gesicht, so unendlich weiß ... Sie sitzt bewegungslos, guckt mit starrem Blick geradeaus auf die Wand. Sie ist jung, 25, höchsten 30 Jahre. Sie scheint nicht verletzt, aber sie ist schrecklich weiß und starr, schmutzig der helle Mantel. Ich setze mich zu ihr, fasse ihren Arm und sage: 'So schnell kann das gehen.' Sie guckt mich nicht an, starrt gerade aus. Aber ganz langsam tastet sie nach meiner Hand, will sie anfassen, sich festhalten.

Da fährt mein Zug ein. Wenn ich nicht mitfahre, erreiche ich in Lichtenberg nicht meinen Zug nach Halle. Ich springe auf. In diesem Moment erreichen zwei Wachleute die Frau auf der Bank. Ein Riesenschnauzer bellt, ist aber 20 Meter weit weg und an der Leine. Ich habe meine Tasche schon in der Hand. 'Was ist los, können wir helfen ?' 'Holen Sie einen Arzt, die Frau steht unter Schock!" Ich springe in meine U-Bahn, die Türen knallen, ein Ruck, der Zug fährt.

 

Der ganze Vorgang hat höchstens zwei Minuten gedauert, so lange, wie man braucht, um diesen Text möglichst schnell zu lesen.

Nach zwei Minuten ist kein Mensch mehr auf dem Bahnhof, der sagen könnte, was mit der starren Frau passiert ist. Weiß sie, was los war? Ist sie runtergefallen, abgerutscht oder hat sie sich dort runterfallen lassen? In meiner Erinnerung sieht das nicht wie ein Sturz aus, eher, als ob sie mit dem weiten Mantel fliegt ... ein Schmetterling flattert zwischen zwei Wagen ....

Wo ist sie hergekommen? War sie vorher schon so weiß? Wie hat sie die Nacht verbracht? Allein? Was dachte sie, als sie den Bahnhof erreichte? Wo wollte sie hin, wer wartet auf sie?

Keine Antworten auf diese Fragen. Vor meinen Augen läuft das ganze ab wie ein irrer Film. Immer wieder. Einzelne Bilder blitzen auf. Habe ich das gestern im Fernsehen gesehen, habe ich es geträumt, war das vor 30 Jahren oder heute morgen?

Klar ist nur, dass ich jetzt in Halle bin.
Ich sitze am Rechner, 22:17 Uhr.
Heute morgen war ich noch in Berlin.
Ja, ich muß in der U-Bahnstation Spittelmarkt gewesen sein! Aber dazwischen ist so viel passiert.
Bahnfahrt nach Halle, Laufen zur Hochschule, schwere Tasche, Medienzentrum.
Kathrin nicht da, entsetzlich, noch krank.
Artikel ausgedruckt, Post gesichtet.
Termin mit Kanzler.
Mit Bernd über Artikel Rapid Prototyping.
Mittagessen.
Mit Jörg über HBFG und morgen Magdeburg.
Silke kriegt das Plakat nicht aus dem Rechner, Corel nicht mit Plotter kompatibel.
Arturo will Ratschläge für seinen Vortrag.
Telefon!
Jörg wird pausenlos gesucht.
Wer kocht Kaffee, wo ist Drucker- und Kopierpapier? Ohne Kathrin bricht alles zusammen.
Die Studenten, AutoCAD-2D. Bemaßung mit ACAD LT, wie editiert man Bemaßungen, wenn BEMEDIT nicht funktioniert? Entsetzlich, dieses ACAD LT.
Nichts im Kühlschrank, Hunger, Einkaufen.
19.30 Uhr
Ach ja, die nächsten Studenten, 3D-Konstruktion.
Tee kochen, wo sind die beiden Glaskrüge,
wie die Küche aussieht,
wenn Katrin nicht da ist ... Der Gegenzug kommt. Warum ist der Zug so voll? Der flatternde Mantel. Wie weiß diese Frau ist und wie starr ...

Was habe ich gesehen? Was ist Realität, was Zeit ?

Jürgen Albrecht, Halle, 08. Januar 1996

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