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Wo kommen die Kinder her ?

Petra ist 28 Jahre alt. Sie hat ein Studium der Betriebswirtschaft absolviert, hat eine unbefristete Arbeitsstelle bei Telekom und ist damit wirtschaftlich selbständig. Sie wohnt in einer eigenen Wohnung am Prenzlauer Berg, unternimmt viel, geht auf Reisen, materiell geht es ihr gut. Karsten ist 30 Jahre alt. Er hat sein Studium als Diplomingenieur abgeschlossen. Er wohnt mietfrei auf dem Grundstück seiner Eltern. Er hat eine Arbeitsstelle im Rechenzentrum der Humbold Universität, allerdings ist dieser Vertrag befristet. Da er aber schon seit Jahren immer wieder verlängert wird, hat auch er ein regelmäßiges Einkommen, das ihn finanziell unabhängig macht.

Zwei aus dem Leben gegriffene Single. Beide in finanziell gesicherten Verhältnissen, beide mit einer eigenen Wohnung ausgestattet, beide unternehmungslustig und voller Tatendrang, aber beide auch allein. Ihre ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht haben sie längst hinter sich. Sie haben beide auch schon mehrfach probiert, wie ein Leben zu zweit in einer De-Facto-Ehe funktioniert. Aber eine solche Beziehung hat nie länger als ein bis zwei Jahre gehalten.

Beide lieben Kinder, beide wollen Kinder, beiden ist klar, daß es für die Kinder besser ist, wenn eine Familie vorhanden ist, wenn Vater und Mutter mit am Frühstückstisch sitzen. Wie schaffen sie es, eine Familie zu gründen, warum ist das nicht längst in die Tat umgesetzt? Warum sind die beiden beispielhaft für einen großen Teil der heute 30-jährigen? Mindestens 60 % von ihnen sind unverheiratet, 40% aller Haushalte in Deutschland sind Single Haushalte. Wo kommen die Kinder für die Zukunft dieser Gesellschaft her?

Erste Blicke, erste Verabredung, endloses Reden, erste Berührung, überraschende Ekstase. Die ersten wilden Tage, die ersten herrlichen Wochen in der gemeinsamen Wohnung. Das erste halbe Jahr ist vorbei. Die ersten Konflikte auch. Es folgt der nächste Crash, er ist unvermeidlich, denn es gibt wohl traute Zweisamkeit, aber es bleiben immer zwei individuelle Menschen, leider. Viel früher, als man es wahr haben will, kommt der Punkt an dem man sich fragt: 'Warum lade ich mir denn eigentlich diesen Streß auf? Das Leben alleine ist doch so viel einfacher, weil ich nicht ständig Rücksicht nehmen und Kompromisse machen muss?!'

Daß wirtschaftlich unabhängige junge Menschen diese normalen Krisen in dieser Weise bewältigen, ist der ganz entscheidende Punkt. Sie sind materiell nicht aufeinander angewiesen. Mindestens 70 % aller Leute um die 30 stehen auf eigenen Füßen und damit gibt es auch diesen schönen und einfachen Weg, alle Beziehungsprobleme aus der Welt zu schaffen. Mindestens aber kann man die Bindung so lose gestalten, daß sie keine eheähnliche Beziehung mehr ist.

 

Das angenehme, leichte Leben in einer Gesellschaft im Wohlstand sägt gleichzeitig an ihren Wurzeln. Auch wenn es paradox klingt: Der Wohlstand bedroht die Existenz der Familie. Das ist nicht Hypothese oder eine sich abzeichnende Gefahr, das ist die Realität. Nicht nur in Deutschland, sondern in allen Ländern mit vergleichbarem Lebensstandard.

Noch einmal: Wo kommen die Kinder her? Von der allein erziehenden Müttern, von der Mutter-Kind-Familie. Diese Mütter gehören in den seltensten Fällen zur jungen, finanziell unabhängigen Elite, denn Kinder, Beruf und Karriere sind in der Regel nicht kompatibel. Deshalb wahrscheinlich ist die Vater-Kind-Familie sehr selten, wogegen die Variante, daß eine alleinstehende Mutter mehrere Kinder (von verschiedenen Vätern) hat, durchaus praktiziert wird.

Es gibt also Kinder in dieser Gesellschaft. Aber Kinder (und alte Menschen) passen nicht in den Tagesablauf dieser Gesellschaft und deswegen eignen sich Kinder nicht als Statussymbol. Diese Gesellschaft animiert die jungen Leute nicht zum Kinderkriegen, sie diskriminiert (indirekt) Eltern mit Kindern, sie sorgt nicht ausreichend für Kindergartenplätze und sie hat die Schulen für Kinder und die Bildung für junge Erwachsene sträflich vernachlässigt. Die Konsequenz: Die Gesellschaft vergreist, sie reproduziert sich nicht mehr, es gibt zu wenig Kinder und die Zahl der Kinder, die mit einer verpfuschten Jugend zu Erwachsenen werden, wächst dramatisch.

Was soll aus dieser Zivilisation werden, wenn der Gesellschaftsvertrag nicht mehr funktioniert, Eltern nicht mehr für ihre Kinder sorgen und im Alter keine Kinder mehr da sind, die sich um ihre alt gewordenen Eltern kümmern? Wie sieht die zweite Lebenshälfte von Yuppi's aus, die keine Familie hatten? Was ist ihnen entgangen, weil sie nicht erlebt haben, wie schön und wie anstrengend es ist, am Sonntag von Kinder geweckt zu werden? Was bedeutet es für die Gesellschaft, wenn sich die Familie auflöst und die Vereinzelung und Vereinsamung schon in der Schule beginnt? Was bedeutet es für die Industrieländer, dass die Geburtenrate in der Dritten Welt unvergleichlich höher ist? Alles Fragen, die niemand stellt, die einfach verdrängt werden.

Ich bin weder Soziologe noch Verhaltensforscher. Aber ich habe den Verdacht, auch hier fehlen dem Menschen wieder einige hunderttausen Jahre Evolution, um die Veränderungen seiner Umwelt auszugleichen, die er durch seine Aktivitäten selbst hervorgerufen hat. Parallel ist es ihm aber nicht gelungen, sich auch ein paßfähiges Verhalten zuzulegen.

Jürgen Albrecht, 01. Oktober 1995

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