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Kaffeefahrt in die Lüneburger Heide 3/3

Auf geht es nach Lauenburg. Dort kommen wir um 14.40 Uhr an. Der Busfahrer: 'Hier fahren wir um 15.30 wieder los. Mehr Zeit haben wir nicht. Ich weiß nicht, warum die heute mit Ihnen so lange gemacht haben. In Lauenburg wird um diese Zeit sicher nicht mehr viel los sein, aber seh'n Sie mal zu. Geh'n Sie mal da runter zur Altstadt, historische Gebäude und so...' Den meisten Leuten wäre es viel lieber, wir würden gleich zurück nach Berlin fahren. Die Show ist doch vorbei, was soll man hier in dem von Gott verlassenen Nest ?! Aber sie trauen sich nicht, das laut zu sagen, dann würden sich sicher viele solidarisieren. Und außerdem, vielleicht findet man ja doch noch ein Geschäft, in dem man für 2,99 DM noch ein Schnäppchen erstehen kann.

Endlich Luft !! Wind, noch kein Regen, diesige Sicht auf die Hochwasser führende Elbe. Alte Fachwerkhäuser, schöne Gaststätten, einige Hotels. Sofort fällt wieder auf: Hier sind wir sind 'im Westen', in den 'alten' Bundesländern. Heile Welt. Alles ist wie geleckt. Schließlich hatte man 50 Jahre Zeit, um den Rasen zu mähen und den Weg zwischen Gartentor und Haustür zu pflastern. Eine vierstufige Kompostanlage aus verzinktem Stahl im Garten. Komfortable Villen mit großen Fenstern, beste Lage, Sicht über das Land. Kein Mensch ist auf der Straße, im Garten oder in einem der Häuser zu sehen. Ist man glücklicher, wenn man es in den letzten Jahrzehnten ge- schafft hat, sich so ein Haus hier hinzustellen? Weiß man dann mehr über den Sinn dieses Lebens? Eine knappe Stunde in scharfem Schritt durch Lauenburg, Unter- und Oberstadt.

Dann ist auch der Bus wieder da. Es fängt an zu regnen, auf der Autobahn ist es Dauerregen. Die Stullen und das Bier sind ausgepackt, einer verschenkt Bananen: '... die müssen weg!'. Noch ein Schluck aus dem Flachmann, dann ist der leider leer. Bei einem weiteren WC-Stop regnet es in Strippen. Es ist dunkel geworden, im Bus werden die Fernsehgeräte eingeschaltet. Der Busfahrer hat ein Video (ab 16 Jahre) eingelegt, das alle interessiert: Ein amerikanischer Krimi mit Schießereien, nackten Frauen und vielen kaputten Autos.

Unser Auto bleibt trotz schlechter Sicht und viel Verkehr heil. Wir kommen gegen 19.30 Uhr wie- der bei Ebbinghaus an. Aussteigen. Aus dem Kofferraum wird die per Zufall erstandene Wohnungseinrichtung ausgeladen. Ich sortiere zu Hause meine 'Geschenke' in den Abfalleimer. Nur kurz nach der Maueröffnung habe ich so wertloses Zeug gesehen. Die Uhr geht, wenn man eine Batterie einlegt. Auch die 'Super-Sound-Stereoanlage'. Sie erweist sich als ein Radio Made in China, das vielleicht in einem indischen Slum Aufmerksamkeit erregen könnte.

 

Die zwei 'Stereo-Boxen' sind beide zusammen so groß wie eine Zigarettenschachtel. Aber auch in Indien wären die vier RB-Batterien teurer als die ganze 'Stereoanlage'. Radio, Uhr und Nagelset sind Repräsentanten einer Produktgruppe, die man auf Wühltischen mit dem verlockenden Hinweis: 'Jedes Teil 99 Pfennige' findet. Produziert für die Müllhalde. Motto: Lieber schlecht, als gar nicht verkauft.

Die ganze Kaffeefahrt hat wie eine biologische Symbiose funktioniert: Ein Unternehmer will Geld machen. Am leichtesten ist das bei geschicktem Handeln zu verdienen. Viel Umsatz, viel Gewinn. Also viele potentielle Kunden und goldene Bestecke. Er braucht einen Saal, möglichst umsonst. Ein Gastwirt, weitab auf dem Lande, stellt ihm Saal und Lagerflächen umsonst zur Verfügung, weil er auf diese Weise zu Umsatz in seiner Küche kommt. Der ist hundertfach größer, als wenn er auf seine Dorfnachbarn warten würde. Der Unternehmer braucht Kunden. Er animiert einen Busunternehmer. Der verkauft eine Fahrt in den 'Naturpark Lüneburger Heide'. Der Ausflug kostet 19,90 DM und endet vor einem Landgasthof. Mit Einnahmen von 1200 DM kann sich die Reisefirma über Wasser halten und der Unternehmer kommt kostenlos zu Kunden. Das ganze System ist stabil und trägt sich selbst. Das entscheidende Prinzip des Kapitalismus. Im Endeffekt haben alle ein Geschäft gemacht, nur die 'Gäste' nicht. Aber das merken sie erst nach ein paar Wochen oder auch nie.

Genau so selbstverständlich, wie der Bus-Fahrer bei 20 DM nicht daran denkt, eine Quittung auszustellen oder 10 Pfennig zurück zu geben, wundert sich niemand darüber, daß vom 'Naturpark Lüneburger Heide' nichts zu sehen ist. Wo ist der 'große Einkaufsbummel', wo die 'vielen Sehenswürdigkeiten'? Alles Lüge! Daß die ganze Tour vom ersten Handzettel über die schönen Reden und das viele Gold bis hin zu den 'wertvollen Geschenken' eigentlich nur Lug und Trug ist, fällt keinem der 'Gäste' mehr auf. Auch die Ossi's haben nach fünf Jahren gelernt und sich an diese Art des Umgangs mit der Wahrheit gewöhnt. Für Wessis sind das sowieso Selbstverständlichkeiten. Jeder weiß, daß in diesem Milieu nichts mehr wörtlich genommen werden darf, das gesagt oder geschrieben wird. Es ist klar, daß die 'Geschenke' wertlos sind und nach ein paar Tagen auf dem Müll landen.

Aber trotzdem: 'Wo sind die Kopfhörer ?!?' Und beim Aussteigen die ungläubige Frage: 'Sie wollen wirklich das Nagelset hier liegen lassen ?' Unbegreiflich! Man läßt doch sein Eigentum nicht einfach im Bus liegen ?! Na, da bringe ich eben zwei Nagelsets von dieser schönen Reise mit. Noch ein Schnäppchen!

Jürgen Albrecht, 05. Februar 1995

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