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Kaffeefahrt in die Lüneburger Heide 1/3

Heute habe ich mich eingeladen: 'Zur traumhaft schönen Tages-Städte-Fahrt in den Naturpark Lüneburger Heide mit großem Einkaufsbummel und vielen Sehenswürdigkeiten'. Um 5.30 Uhr steige ich bei Ebbinghaus in einen großen Bus. 64 Plätze, voll belegt bis auf den freien Platz neben mir. Für diese Fahrt war mit Handzetteln kurz vor Weihnachten geworben worden. Ich muß meine Bildungslücke schließen, denn bisher habe ich eine 'Kaffeefahrt' noch nicht mitgemacht.

Der Busfahrer begrüßt die Leute, als wir auf der Autobahn sind. Er kündigt in Stolpe eine Pause und Kaffee, Cola und Bier für je 2,00 DM an. Eine Toilette ist zwar an Bord, kann aber wegen Frost nicht benutzt werden (Außentemperatur um 10 Grad, plus). Die Gäste mögen bitte den eigenen Müll wieder mitnehmen. Dann ist Ruhe, der Morgenschlaf muß nachgeholt werden.

Nach der Pinkelpause in Stolpe ging es über Lauenburg und die Umgehungsstraße von Lüneburg irgendwo aufs Land. Dort steht ein Landgasthaus und der volle Bus wird schon erwartet. Drei knackige, junge, dynamische, laut und schnell sprechende Herren (fast weißes Hemd, sehr gewagter Schlips, Ohrring, Seidenhose) empfangen die 'Gäste'. Wir werden in den Tanzsaal der Gaststätte gebeten: Ländlicher Charme, Girlanden, drei Reihen Tische, bequeme Stühle, Bühne mit viel Rot und Gold. Bestellung, der Kaffee kommt, Brötchen, Musik, Toiletten. Wo wir eigentlich sind, weiß niemand.

Johannes begrüßt die Busladung, alles einfache Leute wie Du und ich. Der Mann und die Frau von der Straße, das Volk. Durchschnittsalter 58 Jahre. Kleine Scherzchen, Informationen: 'Die Veranstaltung geht bis Mittag, ist doch praktisch, gleich anschließend hier das Essen einzunehmen. Heute ist Sonnabend und in Lauenburg und erst recht in Lüneburg sind ab 13 Uhr alle Gaststätten geschlossen, die bereiten sich schon auf den Abend vor. Außerdem gibt es hier soooo ein großes Kaßler, die Kartoffeln ist man schon am schälen - natürlich mit der Hand ... 11.50 DM und 12.50 DM.'

Dann hängt sich Rico das Mikrofon vor den Schlips und erklärt, daß er gerade 31 Jahre und Vater geworden ist (und da klatschen Sie nicht ??), daß er hier der Star, der Manager und der Chef ist und daß wir heute etwas erleben werden,

 

was es noch nie gegeben hat und woran wir unser ganzes Leben denken werden, weil das so unglaublich ist! Ist etwa jemand dabei, der noch nie auf einer Verkaufsveranstaltung war?' Zwei Leute melden sich, ich schäme mich, ob meiner Bildungslücke und hebe nicht die Hand. 'Na, so ein Glück, was denken Sie, was Ihnen heute gleich beim ersten Mal geboten wird, nie wieder wird so eine günstige Gelegenheit kommen!' Der Mann kann reden, kann schnell reden, ein gutes Deutsch, konzentriert hat er ständig alle Leute im Blick, laufend stellt er Fragen an das Auditorium (Ist das richtig? ... Jaaaa!). Keine billigen Witze, aber er hat Probleme mit sich selbst. Er bedauert sich, daß er hier sein Talent vor das billige Volk wirft, beschwert sich, wenn die Leute ihm nicht folgen: 'Gestern saß hier vorne eine Frau, die hat ständig nur gestrickt, sie hat mich kaum angesehen I!'. Sauer ist er auf die eine Frau, die ihm nicht zuhören, sondern spazieren gehen will: 'Na gut, ich habe nichts dagegen. Gehen Sie, wenn Sie meinen. Ich verstehe zwar nicht, was Sie draußen in Kälte und Regen in dieser (trostlosen?) Gegen wollen. Aber bitte. Ich bin einverstanden. Bitte.' Er strengt sich an, er ackert, er redet zwei Stunden nonstop, er dirigiert seine beiden Kollegen. Das Volk geht mit.

Worum geht es denn überhaupt? Was sollen wir kaufen, wo ist das Schnäppchen? Er redet über Gott und die Welt, die Europäische Union, die schwache Lira der Italiener (nicht, daß ich was gegen Türken und Italiener hätte, nein ...), über Artikel im FOCUS und die da oben, die die schöne, stabile Dehhmark durch den Ehküh ersetzen wollen. Vorsicht !! Denn sowas geht immer auf Kosten der Kleinen, Armen und Schwachen. Endlich, nach 45 Minuten läßt er Messer und Gabel aus dem Sack: Wir sollen ein 70-teiliges Besteck-Set kaufen! Aus Solingen, hartvergoldet, 24 Karat, geschmiedet aus einem Stück, Handarbeit, einmalig. Ein Vorhang wird weggezogen: Alles voll Gold! Jetzt kommt eine zweite lange Rede, von der Oma, die ihrem Enkel eine Uhr schenkt, an die sich der Enkel bis an sein Ende erinnert, von der absolut sicheren Geldanlage, von dem ungeheuren Eindruck, den man bei Nachbarn, Freunden und Verwandten mit einem Gold gedeckten Tisch macht: 'Onkel Richard wird gelb vor Neid ...' und davon, daß so ein Besteck in Hamburg nicht unter 6 bis 7.000 DM zu haben ist ...' und erst auf dem Ku'damm !!!'

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