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Verfall der Werte


 

Ehemaligen DDR-Bürgern fällt viel eher als den Wessis auf, wie unterschiedlich die Wertsysteme in der DDR und in der heutigen Gesellschaft sind. Das kann auch überhaupt nicht anders sein, die Wessis kennen ja kein anderes Wertesystem.

Zwei Dinge waren in der DDR dafür verantwortlich, daß sich ein anderes Wertsystem gebildet hat. Erstens hatte das Geld keinen Stellenwert. Alle hatten zu wenig davon, aber man konnte sich dafür das kaufen, was zum Leben unbedingt notwendig war. Zweitens erwuchs aus der Mangelwirtschaft eine Notgemeinschaft. Wenn es kalt ist, rückt man zusammen. Es ging um die Beschaffung der knappen 1000 Dinge des täglichen Lebens. Aber 'das Volk' war sich einig gegen die 'herrschende Klasse'. Es gab auch in diesem Sinne eine Notgemeinschaft: Man wußte, daß in Funk und Fernsehen die Realität schamlos geschönt wurde, man haßte gemeinsam Eduard v. Schnitz, man redete nicht über die Stasi ...usw.

In einer solchen Situation sind spezielle Werte gefragt: Solidarität, Hilfsbereitschaft, Vertrauen, Ehrlichkeit, Freundlichkeit, Mitleid, Gemeinschaftsgeist, Zusammengehörigkeit usw.

In der alten Bundesrepublik und im heutigen Deutschland ist das viel einfacher. Es gibt praktisch keinen anderen Wert als das Geld. Vom Geld hängt das Leben und das Überleben ab. Alle anderen Werte treten in den Hintergrund. Auch und vor allen Dingen die christlichen Werte von Glaube, Menschlichkeit und Brüderlichkeit. Der christliche Glaube ist de jure die Staatsreligion. Staat und Kirche sind vielfach miteinander verflochten. Das Volk aber sieht in der Kirche keine moralische Institution mehr. Skandale, Heuchelei, Weltfremdheit. Zu gross ist die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit geworden. Die massenhaften Kirchenaustritte zeigen das deutlich. Das Geld ist heute das Maß aller Dinge.

Parallel dazu gibt es einen ganz erstaunlichen Effekt, den ich 'Inflation' im Sinne von 'Kulturinflation' nenne. Das fängt an beim 'Set', man kauft nicht einen Topf, sondern ein Set von acht Töpfen,, nicht einen Gürtel, sondern fünf, nicht ein Messer, sondern einen Satz von 12 Messern im Messerblock ... usw. Es geht weiter mit '24 Stunden nur das Schönste der Klassik' (Klassikradio), 'Nonstop-Highlights des Sports' (Euro-Sport), Tag und Nacht ununterbrochen 'die besten' Video-Clips der Musik Scene (MTV), eine unübersehbare Anzahl nicht sehr verschiedener Zeitschriften. Ein besonders Kapitel: Die Inflation der Bücher, die niemand mehr liest. Und es hört auf mit dem 'Triumph des Vulgären, ein SPIEGEL-Essay (siehe Ausschnitt, links).

Mit den niedrigsten Instinkten der Menschen wird Geld gemacht. Das Geschäft mit der Dummheit und der Geilheit der Menschen ist offensichtlich Jahrtausende alt. Bei Dummheit und Sex hat das Fernsehen die Befriedigung der Bedürfnisse effizienter gemacht. Jeder kann vor seinem Fernseher aus dem Kabelkanal, dem Videorecorder oder zunehmend auch von der CD via Computer alles haben, was er zu brauchen glaubt. Gestern sah ich in einem Report, wie der Markt der Fetischisten bedient wird. Kitzeln, nackte Füße, gefesselte Menschen ... "Bestellen Sie bei uns, was Sie sehen möchten, wir produzieren und liefern!!"

Das Ausleben aller Gewaltphantasien jedes Einzelnen ist eine Leistung dieser Zivilisation und des Mediums TV. Das gilt auch für brutalste Gewalt. Vor drei Jahren machte ein solcher Fall noch Schlagzeilen: In New York hatten Leute eine Frau wahllos von der Straße gegriffen bestialisch ermordet und zerstückelt und das alles mit Video aufgenommen. Ein Sturm der Entrüstung in der 'zivilisierten' Welt. Heute hat ein US Film Premiere, in dem ein Mörderpaar zu Kultfiguren werden, weil sich die beiden mit ihren Kanonen so ungeniert über alle Konventionen hinwegsetzen. Das TV wartet nur auf solche Leute: Tabubruch oder 'Only bad News are good News.'

Was wird morgen sein? In Computerspielen, die Vorgänger von 'Interactiv Video and Films', kann man schon lange schießen, hauen und stechen, soviel man will, natürlich mit Todesfolge. Der fiktive Mord und jede grausame Scheußlichkeit ist heute zu realisieren und wird durch die Medien täglich perfektioniert. Die Möglichkeiten der VR (virtual reality) werden einen Qualitätssprung erzeugen. Wie wird sich das auf die tatsächliche Realität, auf Kinder, auf die Schule, auf die Kriminalstatistik und auf den Umgang der menschen miteinander auswirken? Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion werden fließend. Es ist bekannt: Spätestens nach 10 Sekunden weiß ein Pilot nicht mehr, daß er in einem Simulator sitzt.

Die Inflation steigt. Es ist nur noch die Frage, ob linear oder exponentiell. Es gibt kein Zürück. Auch nicht in die DDR, deren Wertesystem langsam zur Legende verklärt wird.

Jürgen Albrecht, 07. Oktober 1994

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