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Bettler und Punk's


Die Sonne scheint und lockt mich vom Rechner weg. Eigentlich habe ich sehr viel zu tun. Aber - Gott sei Dank - eine Ablenkung.

Ich setze mich auf mein Fahrrad und fahre in Richtung Tiergarten. Ich komme am Glockenturm vorbei. Dort werden gerade Weihnachtslieder gespielt. Es hört sich schrecklich an, denn offensichtlich hat dieses Clarion nicht die richtigen Glocken im Repertoire. Am Reichstag stehen Menschen an den dort seit dem Mauerfall aufgebauten Holzkreuzen. Gedenken für die Menschen, die am 'antifaschistischen Schutzwall' ihr Leben ließen. Durch das Brandenburger Tor, frei nur für Busse, Taxis und Fahrräder. Hier stehen immer noch viele Händler, meistens Türken. Sie bieten russische Matrjoschkas, Uhren, Pelzmützen und viele Militaria's der Roten Armee als Souvenir an. Staatssymbole einer untergegangenen Gesellschaft als Soveniers. Auf dem Mittelstreifen trommeln zwei junge Leute für 'Peac in Bosnia'. Neben ihrer großen Trommel steht eine ebenso große Spendenkasse. Ich will mit ihnen reden, will sie fragen, wie sie sich den Frieden im ehemaligen Yugoslawien vorstellen. Aber sie hören nicht auf zu trommeln. Die Straße unter den Linden: Wenig Menschen, leer um die Mittagszeit. Baustellen, Busse, kahle Bäume.

Vor der Oper biege ich nach rechts ab und fahre über den Bebelplatz auf die St. Hedwigs Kathedrale zu (Sitz des katholischen Bischofs von Berlin-Brandenburg). Nur durch eines der drei Portale kann man die Kirche betreten und genau vor diesem sitzt ein Bettler. Ein einsamer Bettler, kein Kirchgänger in Sicht.

Diese Stelle für Bettler hat offensichtlich eine Jahrhunderte alte Tradition. Die christlichen Kirchgänger werden daran erinnert, ihren Worten auch Taten folgen zu lassen. In Rom ist mir auf gefallen, wie viele Bettler dort vor jeder Kirche sitzen.

 

Auch vor Moscheen und Synagogen sitzen seit alters her Bettler. Die Werbung für ihr 'Geschäft' ist nicht von der Art der Religion abhängig, sie folgt wie überall psychologischen Grundsätzen.

Aber die Zeiten ändern sich. Gleich nach dem Mauerfall ist mir aufgefallen, daß vor dem Hertie Kaufhaus am Hallischen Tor die 'Aussteiger' aus Kreuzberg stehen und fragen: 'Harm'se nich nn bißchen Kleingeld ?'. Gegenüber Bettlern und Obdachlosen haben diese Kreuzberger besondere Kennzeichen: Sie sind jung, so zwischen 17 und 25 Jahren und sie haben sich als wilde Punk's verkleidet.

Seit es in der Leipziger Straße nur auch eine Kaufhalle von MEYER gibt, hat sich ihr Eingang zum Treff der Kreuzberger Mittellosen entwickelt. Manchmal lagern zwischen zehn und fünfzehn junge Leute mit Babys, Bier und Hunden vor der Tür dieses Lebensmittelhauses. Die meisten Bewohner der Leipziger Straße kaufen hier ein. Sie müssen sich beim Hinein- und Hinausgehen den Weg durch die bettelnde Truppe bahnen.

Wie sich doch die Zeiten ändern. Als Hunger noch ein oft benutztes Wort war, konnte man die meisten Menschen vor der Kirche treffen. Heute ist die Stelle, wo alle Menschen fast jeden Tag vorbeikommen, die Kaufhalle, das Kaufhaus, der Supermarkt.

Wie viele Gleichnisse und Fragen sich daraus ergeben! An diesem Beispiel kann man wieder seine Gedanken über die sich so stark verändernden Zeiten schweifen lassen. Aber eigentlich wollte ich ja arbeiten, so viel ist zu tun: DECOS-Artikel, DECOS-Nutzerhandbuch, Abnahme im Medienzentrum und Kopien für Scharno ...
Alles viel wichtiger, als solche philosophischen Ausflüge.

Jürgen Albrecht, 08. Januar 1994

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