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Entscheidung zum § 218


In der DDR gab es seit 20 Jahren die Fristenlösung (Abtreibung in den ersten 12 Schwanger schaftswochen erlaubt). In der Bundesrepublik galt die Indikationslösung (bei bestimmten Indikationen straffreier Abbruch möglich). Vor ca. einem Jahr wurde im Bundestag die Liberalisierung des Abtreibungsrechts beschlossen. Es wurde eine moderate Fristenlösung eingeführt. Gegner dieser Regelung, angeführt von den Bayern und den Katholiken, klagten gegen dieses Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht. In diesen Tagen hat das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung bekannt gegeben. Auf einen kurzen Nenner gebracht wurde entschieden: Die Abtreibung in den ersten 12 Wochen ist rechtswidrig, bleibt aber straffrei.

Was heißt das? Die Abtreibungsgegner haben gewonnen. Karlsruhe hat den schlechtesten Kompromiß gefunden, den es überhaupt gibt: Wir sind gegen den Schwangerschaftsabbruch, aber wir wissen, daß der berühmte Mann auf der Straße anders denkt. Deshalb wird Abtreibung nicht bestraft. Wer aber eine Schwangerschaft unterbrechen will, muß das für sich selber organisieren und bezahlen, der Staat ist dagegen, er hilft nicht, er zahlt auch nicht. Eine größere Heuchelei gibt es nicht: Wer Geld hat, kann abtreiben, wer keines hat, muß betteln gehen oder gebären.

Das ist aber nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist die Moral dieser angeblich so christlichen Gesellschaft: Wir sind ja so moralisch, wir sind ja so verantwortungsbewußt, nur wir schützen das werdende Leben, nur wir lieben die Babys aufrichtig, nur wir wissen, was gottgefällig ist, nur wir wissen, was für eine schwangere ledige Mutter gut ist. Auf der anderen Seite regiert dieser Staat am existierenden Leben glatt vorbei. Es gibt die Gesundheitsmisere und die überfällige Gesundheitsreform, es gibt keine Kindergärten, es gibt ein desolates Bildungswesen, es gibt keine Lehrstellen, es gibt 40 % Arbeitslose, es gibt - nicht in Deutschland! - die Bevölkerungsexplosion und es gibt keine menschenwürdigen Altersheime und keine Pflegeversicherung. Und auch die Beerdigung ist nicht unter 1500 DM zu haben.

Aber wer Geld hat, für den sind das alles keine Probleme. Aber wer hat genug Geld: Vielleicht 5 % der Bevölkerung und vor allen Dingen die, die sich in der Politik einen Posten ergattert haben. Für alle Reichen existieren keine Probleme und genau in ihrem Sinne wird Politik gemacht.

Am schlimmsten sind die Frauen im Osten dran. Sie haben in der DDR in einem wirklich kinderfreundlichen System gelebt und sind 20 Jahre lang mit der Fristenlösung verantwortlich umgegangen. Und jetzt plötzlich gilt wieder das Recht der Sieger der Geschichte! Dabei sind im Osten die Bedingungen völlig anders als in den alten Ländern.

 

Die Menschen sind anders, sie haben durchweg buchstäblich nichts auf dem Konto. Das alte Wertesystem ist zusammengebrochen, die Industrie wurde platt gemacht, große Arbeitslosigkeit und keine berufliche und private Perspektive. Und auch keine vergleichbare Infrastruktur. Wo geht eine Frau hin, wenn das Krankenhaus für sie nichts machen darf, es aber keine niedergelassenen Gynäkologen mit OP gibt?

Es ist mir völlig unbegreiflich, daß sich die Frauen im Osten das ohne Aufstand und permanenten Generalstreik bieten lassen (von den Männern!!). Warum sagen sich die Ministerpräsidenten der Ostländer nicht von der Bundesrepublik los!?! Mehr als die Hälfte von Ihnen kommen aus dem Westen, ihre Führungseliten wahrscheinlich zu mehr als 80% ...

Und das ist Demokratie?? Ein Bundestag und ein Bundesrat beschließen mit 2/3-Mehrheit die Änderung eines Gesetzes. Danach legen 8 alte Männer und eine Frau das 'Recht' aus und kippen unwiderruflich diese demokratische Mehrheitsentscheidung, ohne daß es eine höhere Instanz gibt. Wer hat sie legitimiert, wer kontrolliert sie? Und der größte Witz: Die Urteilsverkündung begann mit der Formel: IM NAMEN DES VOLKES. Genau das Gegenteil ist der Fall, die Meinung des Volkes ist auch hier nicht gefragt. Ganz bewußt besitzt das Grundgesetz kaum plebiszitäre Elemente und die Kommission zur Überarbeitung dieser Verfassung (sie wurde zur Beruhigung der Ossi's als Folge der Einheit eingesetzt und verschwindet durch Nichtstun in Kohl's Mantel der Geschichte ...) will in dieser Richtung auch absolut nichts ändern. Wieder das gleiche Prinzip: Das Volk ist dumm, ihm Entscheidungen zu überlassen ist gefährlich (für uns weise Politiker), denn nur wir wissen was gut ist. Für das Volk ... vor allen Dingen aber für uns.

Das alles ist eine riesige Scheiße. Ich sitze mit meiner Meinung immer zwischen den Stühlen. Die Kommunisten, die sozial das richtige wollten, haben dilettantisch versagt und sie konnten nicht gewinnen, weil sie eine Utopie realisieren wollten. Mit der gegenwärtig lebenden Sorte von Menschen ist so eine Gesellschaftsform einfach nicht zu machen. Wegen ihrer Heilsgewißheit und ihrer Unprofessionalität waren mir die Kommunisten immer suspekt. Aber der durch die soziale Marktwirtschaft entschärfte Kapitalismus und die jetzt existierenden Parteien sind keine Alternative. Sie sind zwar (auf den ersten Blick) nicht so borniert aber diesem Staat fehlen alle Wertvorstellung und jede Vision:

Vorder- und hintergründig geht es überall nur um's Geld. Wenn überhaupt noch kaschiert, dann durch eine verlogene christlich-konservative Moral. Für den der Geld hat, ist das der ideale Staat.

Jürgen Albrecht, 06. Juni 1993

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