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Auf Arbeit oder auf Hartz IV ...?
   

Daniel war hier. Über das Wochenende hat er seine Oma und Bekannte besucht und kam dann am Montag gegen Mittag zu mir. Wir haben den ganzen Tag geredet und es uns in der Sonne auf dem Balkon gut gehen lassen. Gestern ist er dann nach dem Frühstück abgefahren: Nach Wannsee zum Segeln.

Daniel schwebt noch zwischen den Welten. Er ist kein Student mehr, aber auch noch kein Werktätiger, der jeden Morgen früh aufsteht und ‚auf Arbeit‘ geht. Seine Diplom-Urkunde hat er noch nicht, der Eingang der Diplom-Urkunde ist abzusehen, nur noch eine Formsache. Die Diplomarbeit und der Abschluss des Studiums sind also abgehakt. Wie aber geht es jetzt weiter, was fängt Daniel mit dem Diplom und seinem Leben jetzt an?

Als Daniel vor acht Wochen seine Diplomarbeit abgegeben hatte, hat er sich am gleichen Tag beim Arbeitsamt als arbeitslos gemeldet. Das Arbeitsamt hat von ihm in der Zwischenzeit alle Unterlagen erhalten, aber noch nichts gezahlt. Daniel hat 900 Euro Schulden auf seinem Konto angesammelt, aber viel Geld vom Staat bis zum Monatsende in Aussicht (rückwirkend ab August): Monatlich wird er erhalten: 280 € für die Wohnungsmiete, 120 € für die Krankenversicherung und 364 € Grundsicherung (Hartz IV). Sonderausgaben für Kühlschrank, Fernseher, Wäsche usw. werden auf Antrag erstattet. Das ist die gegenwärtige Rechtslage in Deutschland.  

Diese Rechtslage führt dazu, dass sich Daniel absolut noch nicht im Klaren ist, was er eigentlich mit seinem Diplom und seinem Leben anfangen soll. Das Dilemma besteht darin, dass es sehr unwahrscheinlich ist, als Diplom-Biologe eine unbefristete Arbeitsstelle zu finden, die mit mindestens 2.500 Euro netto dotiert ist. Damit könnte man (für den Anfang) gut leben und daran denken, eine Familie zu gründen. Realistisch ist aber nur, dass man vielleicht eine befristete Arbeitsstelle findet, mit der man höchstens auf 1.000 Euro netto kommt. Wie soll man unter solchen Umständen an Familie und Kinder denken? Deutschland hat sich unter Merkel in den letzten 5 bis 8 Jahren zum Niedriglohnland mit Zeitarbeitsverträgen entwickelt. Nur so ist Deutschlands Wirtschaft global (noch) erfolgreich.

Diese Situation vor Augen, hat Daniel in den letzten acht Wochen keine Bewerbungen geschrieben und sich während der Diplomarbeit auch nicht um mögliche Job-Angebote gekümmert. Das Arbeitsamt (heute Agentur für Arbeit) ist offensichtlich auch so heftig mit sich selbst beschäftigt, dass es bisher Daniel weder nach Bewerbungen gefragt noch irgendwelche Jobangebote unterbreitet hat. Das scheint der Normalfall zu sein. Wer nicht unbedingt arbeiten will, der hat offensichtlich viele Möglichkeiten, sich dauerhaft in Hartz IV einzurichten.

Das hat Daniel erkannt. Sein Onkel macht es ihm seit 25 Jahren vor. Er ist nie in seinem Leben ‚auf Arbeit‘ gegangen. Daniel aber hat spätestens in der Endphase seiner Diplomarbeit erkannt, dass er das Zeug zum grossen Wissenschaftler hat. Seine Stärken liegen auch im kommunikativen und sozialen Bereich. Verhaltensstudien, Petrischalen und Gensequenzierung, darüber könnte er alles vergessen. Ausserdem ist er bedacht, die Umwelt möglichst wenig zu belasten, er liebt die unberührte Natur, ernährt sich mit Bio-Lebensmitteln und er besitzt keinen Fernseher. Seine Bedürfnisse sind also sehr gering. Er hat eine nette Freundin und er hätte sicher auch gerne Kinder. Aber wovon sollte diese Familie leben, wenn nicht von einer anständig bezahlten Arbeit?!

Das ist die Situation, nicht nur für Daniel. Viele Berufsanfänger haben trotz akademischer Bildung keine 364 € monatlich zur freien Verfügung – trotz Arbeit! Kann man es da Daniel verdenken, dass er sich fragt, ob es nicht vielleicht geschickter ist, sich in Hartz IV einzurichten, als sich den Stress zuzumuten, von einer befristeten Gelegenheitsarbeit in die nächste zu pendeln?! Wir haben darüber nicht diskutiert und ich würde ihm nicht zu einem Hartz IV-Leben raten. Da gibt es nicht genug Futter für den Verstand! Aber die entscheidende Frage ist: Wo ist der Arbeitsvertrag, mit dem sich Daniel und seine Familie langfristig und anständig über die Runden bringen kann?!

 

Jürgen Albrecht, 19. Oktober 2011
update: 19.10.2011

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