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Ignorieren, Verdrängen und Verharmlosen

Nachdem ich die Story über acht Wochen Luftkrieg der NATO gegen Yugoslawien geschrieben habe, bin ich down. Es ist deprimierend, so klar eine völlig ausweglose Situation zu konstatieren und gleichzeitig so völlig hilflos zu sein. Ich setze mich auf mein Fahrrad und fahre zum Alex. Vor dem Fernsehturm eine schöne Gartenanlage mit sprudelndem Wasser. Viele Menschen sitzen hier völlig gelöst in der Sonne. Auch auf dem Alexanderplatz sind viele fröhliche Menschen zu sehen. Geschäftig die Einheimischen, entspannt und auf Entdeckungs- und Shoppingtour die Touristen. Herrliches Wetter, ein buntes Gewimmel, ein friedliches Bild. Kein Mensch denkt hier auch nur einen Moment an den Krieg auf dem Balkan und das Elend der Flüchtlinge.

Das Kriegs-Szenario wird von uns allen fast 24 Stunden täglich ignoriert. Wenn wir in den Nachrichten dann doch damit konfrontiert werden, verdrängen wir dieses Thema möglichst schnell wieder und wenn es uns nicht loslassen will, dann können wir mit sehr guten Gründen diese Horrormeldungen anzweifeln. Es gibt keine wertfreie Berichterstattung über diesen Krieg. Alles, was uns über die Medien erreicht, ist tendenziell gefärbt und durch die NATO-Brille gesehen. In der DDR forderte man sie direkt ein, die Parteilichkeit. Ob es die Massaker wirklich gegeben hat, deren angebliche Bilder Scharping mit bühnenreif gespielter Entrüstung und pathetischen Reden hoch hält - wer weiss das schon. So grausam können Menschen doch gar nicht sein. Sicher herrschen 'da unten' schlimme Zustände, aber sooo schlimm wird es schon nicht sein ...

Eine Zebra-Mutter hat ein Fohlen geboren. Sie hat es über die ersten gefährlichen Tage gerettet. Jetzt ist es schon vier Wochen alt und kann fast so gut galoppieren, wie die Mutter. Aber nur fast. Löwen veranstalten eine Treibjagd. Das Fohlen hat keine Chance. Die Mutter muss fassungslos zusehen, wie ihr Kind von den Löwen gerissen und aufgefressen wird. Eine halbe Stunde lang trottet sie traurig mit der Herde mit. Dann 'hat sie sich wieder in der Gewalt', sie ignoriert, was sie gerade erlebt hat. Sie verdrängt, dass sie vor einer Stunde noch ein Kind hatte und redet sich ein: 'So schlimm ist das ja nicht, in ein paar Wochen bin ich wieder schwanger und bald habe ich das nächste Fohlen geboren.' Solche Situationen haben mich in Czimecks Tierfilmen immer ganz besonders beeindruckt. Wie schnell Tiere in der Lage sind, so einen 'Schicksalsschlag' zu überwinden!

Im Existenzkampf der Arten ist Sentimentalität nicht vorgesehen.

Man kann sich Traurigkeit, Mutlosigkeit und Depressionen einfach nicht leisten. Die kleinste Unaufmerksamkeit kann tödlich sein. Deshalb gibt es unter den Tieren kein Trauer und kein Mitleid. Im Gegenteil, es sind zusätzliche Schutzmechanismen eingebaut: Ignorieren, Verdrängen und Verharmlosen. Die Natur hat die Verhaltensmuster hervorragend programmiert. Sollte sich bei so einer sozialen Katastrophe doch eine kleine barmherzige Schwäche zeigen, so ist man mit diesen hervorragenden Verfahren ausgestattet, um sie zu überwinden.

Der Mensch muss mindestens an dieser Stelle dankbar sein, dass er mehr animalische als menschliche Verhaltensweisen besitzt. Denn diese animalischen Schutzvorrichtungen ermöglichen uns ein herrlich entspanntes Leben in einer Welt voller Elend. Wie sollten wir unbeschwert in der Sonne liegen, genüßlich einen alten Rotwein riechen und schmecken oder uns erregt und begehrlich mit Liebesspielen die Zeit versüssen können, wenn wir ständig an den Luftkrieg der NATO, an die Überschwemmungsopfer in Bangladesch oder an das Elend in den Flüchtlingslagern der Palästinenser denken würden? Der Mensch ist zum eigenen Schutz in der Lage, die garstige Realität aus der meisten Zeit seines Lebens völlig zu verdrängen. Und das ist gut so und notwendig. Ein Leben im ständigen Bewusstsein der unmenschlichen Wirklichkeit wäre nicht auszuhalten.

Aber die Kirche hat es verstanden, auch noch daraus ein Geschäft zu machen. Seit mindestens 2000 Jahren lässt sie sich über den Ablasshandel das gute Gewissen bezahlen, das wir uns über das Ignorieren, Verdrängen und das Verharmlosen auch umsonst beschaffen können. Inzwischen gibt es unzählige Trittbrettfahrer, die von unserem schlechten Gewissen gut leben können. Als ich mit meinem Fahrrad wieder zu Hause bin, fische ich einen Brief von Prof. DDr. Dr. h.c. Hans Waldenfels SJ, Promotio Humana e.V., Bonn, aus dem Briefkasten: 'Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Albrecht (wo hat er meine Adresse her ...?), dieser Brief an Sie fällt mir schwer. Während ich Ihnen schreibe schlagen Bomben ein in serbischen Städten, suchen sich Raketen ihre Ziele, werden im Kosovo Menschen aus ihrer Heimat vertrieben ... Was wir uns von Ihnen erbitten, ist eine jährliche Förderspende, ganz gleich, in welcher Höhe. Sie ist natürlich steuerlich absetzbar.'

Wie schön. Und wie leicht, sich ein ruhiges Gewissen zu erkaufen.

Jürgen Albrecht, 25. Mai 1999

 

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