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Kriegsfolgen in Deutschland

Die Menschen in Westdeutschland, besonders im Süden und in kleinen Dörfern und Städten, haben vom 1. und 2. Weltkrieg und vom Sozialismus auf deutschem Boden wenig erlebt. Nach 1945 war alles noch heil oder wurde schnell repariert, die Leute konnten sich auf die Mehrung ihres Eigentum konzentrieren und sind ohne es äußerlich wesentlich zu merken, von Hitlers Nationalsozialismus in die Bundesrepublik übergegangen. Die Nachbarn, die Chef's und die Untergebenen waren die gleichen wie vor oder während des Krieges. Es wurde von keiner Seite Druck ausgeübt, die in der Nazi-Zeit lieb gewonnenen Wertvorstellungen und Überzeugungen zu ändern. Das Wirtschaftssystem und die Besitzverhältnisse der jungen Bundesrepublik waren mit denen in der Zeit des Faschismus identisch und, ganz entscheidend: Der Feind war der gleiche wie unter den Nazis: 'Der Russe'. Kaum war der Krieg vorbei, beginnt das ‚Wirtschaftswunder'. Jede Menge Geld ist beim Aufbau der zerstörten Infrastruktur zu verdienen. Der Krieg wird möglichst schnell vergessen: Ein Unfall, der im Osten stattgefunden hat. Sicher liegt es an diesen Tatsachen, daß in weiten Teilen der alten Bundesländern die Nazi-Vergangenheit praktisch nicht aufgearbeitet, sondern nur verdrängt wurde und daß hohe Nazis an den Nachkriegsregierungen beteiligt waren.

Ganz anders im Osten Deutschlands. Wir mußten unsere Heimat verlassen, meine Eltern haben alles verloren, was sie sich bis zum Alter von 46 Jahren in Schlesien aufgebaut hatten. Die ganze Familie wurde aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen und in einer fremdsprachigen Umgebung als Zwangsarbeiter auf dem Land interniert. Nach eineinhalb Jahren durften wir nach Deutschlands zurückkehren. Mit einer Kiepe voller Äpfel und einer Holzkiste mit Geschirr und ein paar Bekleidungsstücken konnten wir ein neues Leben beginnen. Aber wir zogen wieder die falsche Karte, denn wir landeten dort, wo in den nächsten 40 Jahren mit Gewalt, Lügen und einer hohlen Ideologie mit uns sozialistische Gesellschaftsexperimente gemacht wurden. Die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.

Erst nach 40 Jahren stellte sich heraus, das andere System passt wohl doch besser zu der heute vorhandenen Sorte von Menschen: Sorry, daß Ihr 40 Jahre umsonst gerackert habt: 1989 pflügt der nächste Umbruch alle gesellschaftlichen Werte um, die bis dahin mit Mühe gewachsene Industrie wird still gelegt und mit der D-Mark wird dem Ostvolk der Mund gestopft. Jeder bekommt ein schönes, neues Auto geschenkt und ein bequemes Sofa mit Fernseher. Da kommt Freude auf und man vergißt die ersten Jahre, daß man keine Arbeit, keine Aktien und keine Immobilien hat. Aber spätestens am Lebensende stellt die Generation, die den Krieg noch selber mitgemacht hat im Osten Deutschlands fest, dass sie ihren Kindern und Enkeln keine Werte hinterlassen können. Sie haben unter wesentlich schlechteren Bedingungen gelebt

 

und mindestens so viel, wie ihre ‚Brüder und Schwestern' in Westdeutschland gearbeitet, aber das hat sich nicht auf dem Konto niedergeschlagen. Zu einem einfachen Leben ohne Hunger und Entbehrungen hat es gereicht, aber es wurde nichts akkumuliert, was der nächsten Generation den Start erleichtern könnte. Ganz im Gegensatz zu Westdeutschland, wo in den nächsten 10 Jahren Milliarden von DM, 60 % aller mittelständlichen Unternehmen und zahllose Immobilien vererbt werden.

Verheerender als die materiellen und finanziellen Verluste aber sind die ideologischen Deformationen und der Verlust an persönlicher Freiheit, denen alle Menschen in der DDR hilflos ausgesetzt waren. Die staatliche Manipulation der Wertvorstellungen, des gesamten sozialen Umfeldes und der Kommunikation waren so total, dass diese Verhältnisse von den meisten Menschen nach 30 oder 40 Jahren als normal und selbstverständlich hingenommen wurden. Obwohl man sich täglich im Fernsehen über das Gegenmodell informieren konnte, gab es zum ‚real existierenden Sozialismus' keine Alternative: Die Machtverhältnisse waren eineindeutig und auch ‚der Westen' hatte sich mit dem Status Quo arrangiert. Wir konnten zwar immer die Freiheitsglocke und den pathetischen Spruch dazu hören, aber keine deutsche Partei, keine NATO und keine UNO hatte ein Konzept, wie die Deutschen in der DDR aus der ‚Diktatur des Proletariats' zu befreien wären. Keiner kam auf die Idee, Gera, Dresden, Rostock und Ostberlin zu bombardieren, um Honecker zur Aufgabe der DDR-Souveränität zu zwingen. Das hört sich haarsträubend an und ist eine Horrorvision, aber genau dieses Konzept wird seit 22 Tagen durch die NATO auf dem Balkan realisiert. Die Zeit, der Zufall und simple wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten kamen uns zu Hilfe, nicht Herr Kohl oder unsere ‚Brüder und Schwestern' in Westdeutschland. Erst Jahre nach der Wende wird uns richtig bewusst, was uns in den 40 Jahren DDR entgangen ist: Ein menschenwürdiges Leben mit so selbstverständlichen Freiheiten wie, die Zeitung zu lesen, die ich lesen will und das Flugticket zu kaufen, was ich bezahlen kann.

Die Verlierer des 2. Weltkrieges wohnen im Osten. Je weiter nach Osten, um so größer die Verluste. In Ostdeutschland wird es weitere zwei bis drei Generationen dauern, bis die Kriegsfolgen nicht mehr an den Überzeugungen der Menschen und der Infrastruktur der neuen Bundesländer zu erkennen sind. Das Geld wird auf Dauer in Westdeutschland zu Hause sein. Ob aber östlich von Oder und Neiße jemals der Lebensstandard der Bundesbürger erreicht wird, ist sehr zweifelhaft. Insofern haben wir als vom Schicksal benachteiligte Ossis keinen Grund zum Jammern. Im Gegenteil: Endlich haben wir mit der Wende von 1989 mal richtig Schwein gehabt!

Jürgen Albrecht, 15. April 1999

 

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