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Dezentral gesteuerte Systeme ... Seite 2/2
 

Hoch entwickelte natürliche Systeme sind offensichtlich durch drei Prinzipien gekennzeichnet:

  1. Die Struktur besteht aus einer sehr grossen Anzahl von Elementen und Relationen, aber nur aus wenigen Klassen unterschiedlicher Elemente. (Interessant ist die Frage, ob auch die Anzahl der Klassen der Relationen gering ist. Ich nehme es an, weiss es aber nicht.)
  2. In dieser Struktur gibt es zwar Hierarchien, aber sie sind flach und die Steuerung funktioniert dezentral und verteilt, sie ist eine inhärente Eigenschaft der Struktur.
  3. Einzelne Elemente oder Teilsysteme sind mit mehreren, völlig unterschiedliche Funktionen belegt.

Professor Adler wird sich im Grabe umdrehen, wenn er hört, wie die Natur konstruiert. Aber er kann sich trösten, die Natur lässt keine Druckmaschinen wachsen. Bei solchen Apparaten war Adlers Prinzip durchaus sinnvoll: Der Mensch beherrscht die mehrfache Funktionsbelegung nur sehr unvollkommen.

Sind das Thesen, oder ist das die Realität? An hochentwickelten Lebewesen kann jeder durch Beobachtung feststellen, dass sie mit diesen Prinzipien leben und funktionieren. Es gelten nicht nur diese Prinzipien alleine, aber es sind typische ‚Konstruktionsprinzipien‘ der Natur: Typisch zum Beispiel für Bäume. Nicht ganz so charakteristisch gilt das zum Beispiel für einzelne Zellen und Einzeller. Tiere sind in der Regel komplexer als Pflanzen. Sie besitzen auch eine deutlichere hierarchische Struktur. Auch hier kann man wie bei menschlichen Apparaten klare Strukturen für Stoff-, Energie- und den Informationsfluss ausmachen. In der Regel besitzen Tiere einen Kopf und er ist der Sitz der zentralen Informationsverarbeitung und der Steuerung des Gesamtsystems. Im deutlichen Gegensatz zu den Pflanzen sind die Tiere offenbar zentralistisch organisiert. Aber – maximale Faszination !! – das funktionell und physisch dafür verantwortliche Organ, das Gehirn, funktioniert dezentral und nach den oben genannten drei Prinzipien.

Dem eigenen Gehirn standen und stehen die Menschen immer völlig ratlos gegenüber, weil es aus so wenigen unterschiedlichen Elementen besteht und eine Struktur nur unter dem Mikroskop auszumachen ist. Dort stellt sie sich noch dazu als sehr simpel heraus. Durch Auswertung von Gehirnverletzungen von Soldaten des 1. Weltkrieges wurden angeblich Hirnregionen lokalisiert, die für unterschiedliche Lebensfunktionen, z.B. Sprache, Riechen, Handbewegung, Sex usw., zuständig sein sollten. Dafür gibt es seit fast 100 Jahren anschauliche Zeichnungen.

Aber nie konnten die Widersprüche aufgeklärt werden, wo denn eigentlich das Bewusstsein zu lokalisieren ist und wie es kommt, dass zum Beispiel bei Verletzung der angeblichen Sprachregion eine andere Region diese Funktion nach einer gewissen Trainingszeit übernimmt. Die neuesten Hirnforschungen aber bestätigen: Es gibt keine deutlich funktionell abgrenzbaren Hirnregionen. Das Gehirn funktioniert als Ganzes ohne ein zentrales Steuerungszentrum. Alle Regionen sind an allen Funktionen mehr oder weniger beteiligt. Das funktioniert, weil alle Nervenzellen extrem miteinander vernetzt sind. Auch der biochemische Mechanismus einer einzelnen Nervenzelle und die der Nervenleitung ist inzwischen im Detail aufgeklärt.

Das aber ist schon alles, was wir über unser eigenes Gehirn wissen. Mehr, als dieses Organ mit unzureichenden Hilfsmitteln zu beobachten gelingt uns zur Zeit nicht. Wir haben keine Vorstellung davon, wie die Verfahren aussehen mit denen wir zum Beispiel einen Baum vor einem Haus wahrnehmen und wie sie im Gehirn strukturell umgesetzt werden. Kein Gedanke daran, dass wir eine Vorstellung davon hätten, wie das Gehirn Problemlösungsverfahren auswählt, neu entwickelt oder wo und wie sie gespeichert sind. Und wie die Problemlösung dann wirklich erfolgt, entzieht sich völlig unserer Kenntnis. Alle Intelligenzleistungen unseres Gehirns liegen völlig im Dunklen. Nur eines ist klar: Auch das Gehirn funktioniert nach den Gesetzen der Naturwissenschaft und es ist DAS Paradebeispiel für ein funktionell hochkomplexes System ohne eine zentrale Steuerung.

Der Mensch ist weit davon entfernt, ein ähnlich leistungsfähiges, technisches System zu entwickeln. Er kann es nicht, weil er nicht weiss, mit welchen Verfahren die Natur solche Systeme erzeugt, die dazu noch völlig autonom agieren und sich selber reproduzieren! Hätte der Mensch das dazu erforderliche Wissen, könnte er eine qualitativ neue Generation von Technik mit heute unvorstellbaren Eigenschaften produzieren.

Dazu ist der Mensch heute nicht in der Lage. Aber er fängt an zu begreifen, dass natürliche Systeme auf einer qualitativ anderen Entwicklungsstufe stehen und nach welchen erstaunlichen Prinzipien sie funktionieren. Das sollte ihn dazu bringen, der Natur mit mehr Achtung, Staunen und Demut zu begegnen. Dass er dazu nicht in der Lage ist zeigt nichts anderes, als dass der Mensch ein Teil der Natur ist. Nur in Ausnahmefällen gelingt es ihm, sich neben die Natur zu stellen und sie und sich mit Abstand zu beobachten.

Jürgen Albrecht, 06. Juni 1999
 
 

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