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10. November 1989 ... Seite 2/2
 

Heute vor drei Jahren wurde für mich persönlich die Mauer um Westberlin geöffnet! Eigentlich ist das bereits in der Nacht vorher passiert, aber da war ich (wie jetzt) in Halle.

Am Morgen hörte in den Radio-Nachrichten: Ganz Berlin war in dieser Nacht auf den Beinen, denn es war tatsächlich wahr geworden, die DDR-Bürger konnten mit ihrem Personalausweis ohne weitere Formalitäten die Grenze in beiden Richtungen passieren. Tausende hatten das in dieser Nacht ausprobiert. Als ich das hörte, hielt es mich nicht mehr in Halle. Hier lief ein Lehrgang zu DECOS, aber ich war kaum in der Lage, ihn ordentlich zu Ende zu bringen. Es war Freitag. Gegen 13 Uhr fuhr ich mit Frick bis zur Autobahn in Richtung Berlin. Von dort aus trampte ich nach Berlin - das erste Mal seit 30 Jahren wieder. Vorher bezahlte ich bei der Volkspolizei noch 10 Mark Strafe wegen 'unbefugten Betretens der Autobahn': Verstoss gegen die StvO § 34 (6).

Gegen 17 Uhr sind wir am Grenzübergang Drewitz (Dreilinden). Lächelnde Volkspolizisten, Rosen am Abfertigungsschalter. Ich bin in Westberlin !! Dann laufe ich vom Theodor-Heuss-Platz bis zum Ku'damm und über den Tauentzien. Himmel und Menschen! Die Glocken der Gedächtniskirche läuten um 20 Uhr, gerade als ich am Kranzlereck bin. Mir wird ganz flau. Vom Wittenbergplatz bis zum Hallischen Tor mit der legendären U-Bahnline 1 - völlig verstopft - und von dort zum Check Point Charly an der Friedrichstrasse: Blitzlichtgewitter, Trommeln auf Autos, Sektflaschen. Die ganze Stadt ist im Freudentaumel. Erst gegen 1 Uhr in der Nacht war ich zu Hause in Spindlersfeld. In der Anlage finden sich zwei Seiten mit Stichworten, die ich danach am Vormittag des 11. November 1989 aufgeschrieben habe (Original im Ordner IV/1992).

Diese Nacht war unbeschreiblich. Es war sicher die abenteuerlichste und ereignisreichste Nacht meines Lebens. Solche Emotionen werde ich nie wieder erleben. 30 Jahre lang rennt man an der einen (falschen) Seite der Mauer lang, hat überhaupt keine Perspektive, diese Mauer zu überwinden und erst recht ist keine Hoffnung in Sicht, diese Mauer zu beseitigen. Und plötzlich, ohne Vorwarnung und ohne sichtbaren Anlass fällt diese Mauer buchstäblich über Nacht zusammen und jeder Ostberliner bekommt eine ganze, lebendige und hervorragend funktionierende Stadt, direkt neben seiner eigenen, so ganz einfach und nebenbei geschenkt !! Das ist einmalig und fast nicht zu verkraften. Ich hatte in dieser Nacht Mühe, die Realität zu begreifen.

Einer der stärksten Eindrücke dieser Nacht war, als ich an der Jannowitzbrücke sah, wie Bauarbeiter die U-Bahn dort wieder öffneten. Leute, die erst 30 Jahre alt waren, hatten dort nie in ihrem Leben eine U-Bahn gesehen!

Wer wusste noch, dass dort im Untergrund tatsächlich immer eine U-Bahn fuhr, ohne im Osten zu halten ?! Als ich das sah war mir klar, hier ist etwas passiert, das geht nicht mehr zurückzudrehen. Zeitweilig aber geht es mir heute noch so, dass ich mir sage: Das kann doch alles gar nicht wahr sein !! Zum Beispiel wenn ich in die Hosentasche greife und dort 'Westgeld' finde oder wenn ich in Berlin mit dem Fahrrad 'durch die Mauer' fahre. Die Mauer ist jetzt schon vollständig abgebaut, aber mir fällt es immer wieder auf, wenn ich an so einer Stelle vorbeikomme.

Und heute, drei Jahre danach ist alles von der Geschichte schon wieder überholt und selbstverständlich. Gestern in den Nachrichten wurde der Mauerfall nur in einem Nebensatz erwähnt. Europa, die Wirtschaft, das Asyl- und Ausländerproblem, die Demo am Sonntag in Berlin und der 54. Jahrestag der 'Reichskristallnacht', das bewegt jetzt die Gemüter. Und das ist ja auch wichtig.

Wenn man bedenkt, was in den vergangenen 1000 Tagen passiert ist, dann kann man vielleicht verstehen, dass dieser Tag des Mauerfalls untergeht: Es gibt keine DDR mehr, es gibt keine Sowjetunion mehr (Ewige Freundschaft mit der Sowjetunion ...), dafür gibt es einen Bürgerkrieg auf dem Balkan, politisches und wirtschaftliches Chaos in Osteuropa und als Folge davon riesige Flüchtlingsströme in Richtung Westen, dazu noch eine weltweite Rezession. Wer denkt da noch daran, dass die Welt heute vor drei Jahren noch 'völlig in Ordnung' war ?!

In Deutschland ist die Euphorie über Mauerfall und Wiedervereinigung spätestens seit anderthalb Jahren einer Stimmung gewichen, die in Ost und West von Skepsis bis Existenzangst reicht. Die Wessis merken, dass ihr in 40 Jahren erarbeiteter Wohlstand in Gefahr ist. Die Ossis wollen sofort alles haben (das hat man ihnen am Anfang auch versprochen). Stattdessen wird die gesamte DDR-Wirtschaft 'platt gemacht' und die Arbeitslosigkeit - in der DDR Null Prozent - liegt jetzt real bei 40%.

Das ist heute die Situation . Trotzdem muss ich sagen, auch wenn ich arbeitslos wäre oder es mir wirtschaftlich deutlich schlechter gehen würde, ich bin glücklich, dass sich die Geschichte so entwickelt hat. NIE WIEDER ZURÜCK !! Für meine Bedürfnisse ist diese Gesellschaftsordnung - die absolut nicht perfekt ist - wesentlich besser geeignet, als eine wie auch immer geartete Diktatur. Am menschlichsten an der Demokratie ist für mich der Pluralismus. Es gibt nicht nur eine Wahrheit und der Mensch ist ein Individuum und kann sehr gut auch ohne Kollektiv auskommen. Ich hoffe nur eines: Dass es so oder so ähnlich noch möglichst lange bleibt ... Aber das kann Illusion sein.

Jürgen Albrecht, 10. November 1992


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