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Real Utopia in der Salzwüste von Utah 5/5

Ein widersprüchliches Facit
Der Temple Square, das Konzert, die Universität und die Mormonen haben mich beeindruckt und werden mich noch eine Weile beschäftigen. Die Mormonen haben es geschafft, in einer Salzwüste und umgeben von einer freiheitlichen Demokratie, einen kompletten, funktionierenden 'Gottesstaat' aufzubauen, dessen 'Verfassung' ein christlicher Glaube ist. Die Menschen, die sich zu diesem Glauben bekennen, und alle anderen Aspekte der Welt der Mormonen, haben sich strikt diesen christlichen Grundwerten unterzuordnen. Dass diese Ausrichtung eines vollständigen Gemeinwesens seit 150 Jahren konsequent und geradlinig durchgehalten wird, ist beeindruckend. Damit wurde von den Mormonen eine Gesellschaftsordnung geschaffen, in der es nicht vorrangig um Geld, sondern um Menschlichkeit und Moral geht. DAS genau ist der entscheidende Unterschied. Woher die Moral kommt und worauf sie sich gründet, ist erst in zweiter Linie interessant. Entscheidend ist: Hier gelten generell und rigoros hohe, moralische Ansprüche und erst dann kommt das Geld (das man natürlich hat ...).

Aber dieser entscheidende Vorteil wird mit gravierenden Nachteilen erkauft: Offensichtlich gibt es bei den Mormonen einen starken Zentralismus und Dirigismus. Die absolutistische Führung besitzt das Meinungsmonopol, das Lehrgebäude ist erstarrt, es gibt Denkverbote und mit Sicherheit verbotene Fragen. Solche Restriktionen sind in der heutigen Zeit unannehmbar, ja gefährlich. Sie müssen im alltäglichen Leben, das sich täglich gravierend verändert, zu Konflikten führen. Auf der anderen Seite scheinen die Mormonen aber einen erstaunlichen Pragmatismus zu besitzen der sie in die Lage versetzt, in Konfliktfällen Kompromisse zu finden. Schon allein die Tatsache, dass sie ein strikt religiös ausgerichtetes Gemeinwesen innerhalb eines demokratischen Rechtsstaat aufgebaut haben, weist auf ihre Flexibilität hin. Denn natürlich muss im Zweifelsfalle immer gelten: Bundesrecht vor Landesrecht.

Es könnte sein, dass sich bei den Mormonen ähnliche Verhältnisse wie im Sozialismus eingestellt haben: In Technik und Wirtschaft ist Pragmatismus mehr oder weniger gewollt und vorhanden. Ideologische (gleich religiöse) Grund- und Glaubenssätze aber stehen weder zur Diskussion und erst recht nicht zur Disposition. Trotzdem ist die Utopie der Mormonen deutlich erfolgreicher als die der Kommunisten: Ihr Staat im Staate ist wohlhabend, wirtschaftlich stabil und existiert schon mehr als 150 Jahre - der ehemals weltweit agierende Sozialismus ist dagegen nach maximal 70 Jahren 1989 implodiert.

 

Im Gegensatz zu den DDR Bürgern werden die Mormonen nicht mit Gewalt in Schacht gehalten, sie sind frei und können (scheinbar) tun und lassen, was sie wollen. Die Mechanismen, mit denen sie bei der Stange gehalten werden, sind psychologisch wesentlich geschickter und subtiler konstruiert. Sie funktionieren solange einwandfrei, wie keine verbotenen Fragen gestellt werden.

Die so naiven Kommunisten hätten von den Mormonen lernen sollen: Man kann alles anders machen, als in den bisherigen Gesellschaftssystemen. Aber das private Streben nach Mehrwert und die Geld- und Zinswirtschaft abschaffen zu wollen, das ist eine zu hoch gegriffene Utopie. Ein verhängnisvoller Irrtum mit weitreichenden Folgen.

Jetzt kennt man die Schwachstellen dieser Utopien - wie könnte 'Optima Utopia' aussehen? Von den Mormonen kann man dazu vieles über Geld und Wirtschaft lernen, das beste des 'real existierenden Sozialismus' war der Dialektische Materialismus und das Bildungssystem. Zwei Dinge müssten bei der nächsten Utopie qualitativ neu gefasst werden: Die mehr als 2000 Jahre alten christlichen Vorstellungen von Schöpfung, Leben und Tod sind seit dem 18. Jahrhundert überholt und wissenschaftlich unhaltbar. Analoge, sogar die gleichen Moralvorstellungen können auch von einer wissenschaftlich fundierten Sicht auf die Natur und das Leben abgeleitet werden. Eine solche Weltsicht verbietet das Denken nicht, sondern macht es zur Pflicht. Zum anderen zeigt der Zerfall der Familie, dass die christliche Einehe in der technischen Zivilisation nicht mehr funktioniert. Sie hat nie funktioniert. Es wird ein neues Sozialsystem benötigt, das die Generationen wieder zusammenführt. Vielleicht könnte das Clan System der Aboriginals in die heutige Zeit adaptiert werden? Immerhin haben sie damit friedlich 50.000 Jahre in enger Sozialgemeinschaft und im Einklang mit der Natur gelebt. Deutlich länger als jede der bisherigen Kulturen der Menschheit. Aber ihre Welt war konstant, unsere ist dynamisch.

Sind die Mormonen so reformfreudig? Kein etabliertes System kann sich von innen heraus grundlegend reformieren. Sind die Kommunisten zu einem qualitativ neuen Anlauf fähig? Sie haben bei ihrem ersten Versuch viel zu wenig Intelligenz gezeigt und ihn noch nicht einmal im Ansatz verarbeitet. Ich setze auf die Dritte Welt. Nur die Armen, die weder Eigentum noch Historie mit sich herumschleppen, könnten sich wieder auf den langen Treck nach Utopia aufmachen.

 

Jürgen Albrecht, 10.09.2001, BYU Provo, Utah, USA, 27-Jan-2002

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