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This is America 1/5

Eine alltägliche Begegnung
Seit gestern habe ich hier auf dem Campingplatz in Fort Bragg neue Nachbarn. Bei ihrem Einzug besetzen sie ganz selbstverständlich meinen schönen Standplatz. Ich war mit dem Camper unterwegs. Mein Liegestuhl stand auf meiner Site, die Eingangstreppe lag im Gras, der Suppentopf und das Gemüse für den Salat standen auf dem Tisch ... Trotzdem war eine Frau mit einem Motorhome auf meiner Site eingezogen. Ich musste mit ihr eine Weile reden, bevor sie einsah, dass das unfair ist. Erstaunlich, wie man manchmal die Wirklichkeit einfach ignoriert, weil sie einem nicht gefällt! So war das wohl hier. Die Dame wollte auf meinem schönen Standplatz stehen, weil daneben ihre beste Freundin eingezogen war.

Aber heute habe ich mich schnell mit dieser ganzen Truppe angefreundet. Es ist der Club 'Women On The Road'. Zu den beiden Damen gehören noch mindestens 6 andere Motorhomes. Eine Karawane. Auch Männer können Mitglied in diesem Single Club werden. Alle schon angegrauten Singles stammen aus Redwood, CA, und jeder hat sein eigenes Motorhome. Sie gehen gemeinsam auf Reisen, machen aber keine grossen Touren. Auch nach Fort Bragg ist es nicht weit und sie bleiben hier nur über das Wochenende. Mit Dorothey, der neuen Nachbarin, habe ich mich heute schon mehrfach unterhalten. Sie ist sehr an einem Schwatz interessiert seit sie gemerkt hat, dass ich aus Deutschland komme. Dorothey ist eine Sekretärin, 55 Jahre alt, drei Kinder, zwei Enkel, geschieden und ihr Corpus ist dabei, aus den Fugen zu geraten. Über Kinder, Enkel und Hunde bekommt man am schnellsten Kontakt. Wir sind sogar schon weiter, es geht um Amerika, den Terrorismus und was dagegen zu tun ist. Den Newsweek Artikel 'Why they hate us' will sie morgen lesen. Für mich wäre sehr interessant, was private Amerikaner über diesen Artikel denken. Von Bush hält sie deutlich mehr als von Clinton. 'Clinton war für die Teenager gar nicht gut ...!' Ha, ha, das ist natürlich auch ein Gesichtspunkt und er scheint schwerer als die Tatsache zu wiegen, dass es der amerikanischen Wirtschaft nie so gut ging, wie unter Clinton!

Ich frage Dorothey, warum sie mit dem Club 'Woman On The Road' unterwegs ist. Gibt es gemeinsame Aktionen, Ziele oder besondere Hobbys? Es gibt nichts. Ausser, dass man auf der Strasse in einer Karawane fährt und hier, wenn es das Wetter zulässt, gemeinsam um das Feuer sitzt, wird nichts unternommen. Maximal spielt man miteinander Karten oder andere Spiele. Ansonsten Small Talk über den ganz trivialen Alltag. Viele der Singlefrauen haben Hunde, also hat man ein wunderbares Gesprächsthema. Politik interessiert nicht oder nur ganz am Rande. Alle haben TV in ihrem Motorhome. Das wird in erster Linie zum Abspielen von Videos benutzt, die man sich umsonst aus der Library holen kann. Video Shops sind aktueller und dort kann man sich auch (unter dem Ladentisch) Pornos ausleihen. Eine Masche ist hier schon längst eingeführt, die Europa erst in den Anfängen erreicht: Bücher auf Kassette. Dicke Bücher werden vorgelesen und in der Library gibt es lange Regale, in denen die Boxen mit bis zu 20 Kassetten stehen. Vom Kinderbuch über Romane, Science Fiction, bis hin zum Sachbuch ist alles zu haben. Vorlesen kommt an, weil es viel bequemer, als selber lesen ist. Ausserdem kann man parallel auch noch mit den Hunden spielen, Fernsehen gucken und in der Küche oder im Garten werkeln.

Heute morgen gegen 10 Uhr klopft Dorothey an meine Tür. Sie fragt nach dem Newsweek Magazin. Das aber war nur der Aufhänger, sie will sich mit mir unterhalten. Wir setzen uns an einen der Tische, die unter der Überdachung stehen. Sie blättert in dem Magazin herum: 'Der Artikel ist ja schrecklich lang ...!' Den Terroranschlag findet Dorothey entsetzlich. Aber Gott sei Dank ist das ja an der Ostküste passiert. Weit weg und ausserdem: Wie soll man sich gegen Selbstmörder schützen, die Flugzeuge kidnappen?!

 

Dr. Bob kommt vorbei und unterbricht die Diskussion. Er ist Mediziner, einen Kopf kleiner als ich, hager, grauer Backenbart, dicke Daunenjacke. Dr. Bob war 1947 in Germany und kann noch 'Guten Tag' sagen. Auch er ist gestern mit einem Camper angekommen und jetzt übernimmt er sofort das Gespräch. Dorothey fragt ihn nach diversen Gesundheitsproblemen und er hat in jedem Fall die absolut richtige und erschöpfende Antwort parat. Seine Spezialstrecke ist: Keine Medizin, aber Aufbaumittel. Der Körper hilft sich in den meisten Fällen ganz alleine. Es gibt viele Medikamente, die keine sind und die in Germany unter dem Stichwort 'Stärkungsmittel' in Drogerien angeboten werden. Dafür ist er Spezialist und der Meinung, diese Präparate sind für eine gesunde Ernährung lebenswichtig.

Sein Steckenpferd ist, gegen die Brillen Front zu machen. Alle sollten sofort ihre Brillen wegwerfen. Nach sechs Wochen braucht man mit seinem Trainingsprogramm keine Brille mehr. Ich gebe zu bedenken, dass die Brille doch wohl ein physisches Gebrechen korrigiert. Die Linsen des Auges sind mit der Zeit nicht mehr in der Lage, ein scharfes Bild zu erzeugen. Ja, das ist richtig, aber sein Lieblingssatz gilt generell und hier wörtlich: 'Man sieht das, was man sehen will!' Man braucht also nur zu wollen, dann sieht man auch mit schlechter Optik die kleinste Schrift scharf. Ich werfe ein, sicher kann man sich auch (nach dem Atomkrieg) daran gewöhnen, ohne Brille zu leben. Als Ingenieur bezweifle ich aber sehr, dass man nach sechs Wochen Training mit einem schlechteren optischen System genau so gut sehen kann, wie vorher mit Brille. Warum also die Brille wegschmeissen? ‚Weil sie unnatürlich ist! Nach einer kurzen Zeit der Gewöhnung sieht man genau so gut, wie mit Brille!' Dr. Bob selbst ist dafür das beste Beispiel: Er hat seine Brillen weggeworfen und keine Probleme mehr beim Zeitunglesen.

Diskutieren kann man mit Dr. Bob offenbar nicht. Er ist es ein Leben lang gewohnt, mit schlichten, ehrfürchtigen Patienten umzugehen, die mit ihm nicht diskutieren wollen, sondern ihn als letzte Autorität in allen Dingen des täglichen Lebens ansehen. Da wird man selbstgerecht und bald ist man davon überzeugt, dass es auf dieser Welt keine offenen Fragen mehr gibt. Dass ein Mediziner gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse und Fiktionen nicht auseinanderhalten kann, ist ihm nicht übel zu nehmen. Die Medizin ist keine Wissenschaft.

Dorothey möchte den Newsweek Artikel kopieren, aber auf dem Campingplatz gibt es keine Kopiermaschine. 'Zu Hause in Redwood gibt es doch sicher eine Library!? Du brauchst Dir also nur zu merken: Newsweek, October 15, und alles ist o.k..', schlage ich ihr vor. Ja, das ist eine gute Idee. 'Aber jetzt hast Du doch Zeit zum Lesen ...', dränge ich sie. Ich biete mich sogar an, in dieser halben Stunde mit ihren Hunden zu spielen, die uns ständig wie Babys bedrängen. Der Kleine will ständig gestreichelt werden, der grosse Hund legt uns immer wieder den Ball vor die Füsse, den wir wegwerfen sollen, damit er ihn fangen und zurück bringen kann. Nur der Mops liegt ruhig auf einer warmen Decke. ‚Nein, hier kann ich die Zeitschrift nicht lesen!' Dorothey gibt mir die Zeitschrift zurück. Die Hunde lassen ihr jetzt keine Ruhe. In Redwood wird sie den Artikel lesen. Eine höfliche Ausrede. ‚Kommst Du mit zu einem Spaziergang an der Küste?' ‚Nein, wegen der Hunde kann ich nicht mitkommen. Der Mops ist alt, er kann nicht mehr gut laufen ...' Ich gehe allein am Pacific spazieren, auch wenn das Wetter nicht gerade einladend ist.

Eine alltägliche Begegnung mit typischen Amerikanern, wie ich viele kennen gelernt habe. Dr. Bob und Dorothey sind sogar besser als der Durchschnitt, denn sie sind flexibel und beweglich, fahren mit dem Motorhome durch die Gegend und sie sind an Gesprächen interessiert, wenn sie auf einen Ausländer treffen, der ihre Sprache versteht.

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