Die Ostpolitik von Willy BrandtEgon Bahr und Willy Brandt plädierten bereits in den 60-er Jahren für einen "Wandel durch Annäherung" im Verhältnis der beiden deutschen Staaten. Willy Brandt war von 1969 bis 1974 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Erich Honecker war von 1971 bis 1989 als Erster Sekretär bzw. Generalsekretär des Zentralkomitees der SED der mächtigste Politiker der Deutschen Demokratischen Republik. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger, Walter Ulbricht, propagierte er als "Hauptaufgabe" die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Im Klartext bedeutete das eine Schwerpunktverlagerung: Weg vom Aufbau einer Schwerindustrie, hin zu Wohnungsbau und einer besseren Versorgung der Bevölkerung. Im "Wandel durch Annäherung" von Willy Brandt sah die DDR-Regierung eine Möglichkeit, durch Importe aus Westdeutschland die Versorgungslage in der DDR zu verbessern. Um die Bereitschaft der Bundesregierung zu testen wurde in den Jahren 1973/74 der Import eines grossen Schlacht- und Verarbeitungskombinats vorbereitet. Im DDR-Bezirk Frankfurt/Oder hatte sich eine industriemässige Landwirtschaft entwickelt (Industrie- und Agrarkomplex Eberswalde). Ziel war die massenhafte Tier- und Pflanzenproduktion und die Versorgung von (Ost-) Berlin. Berlin war als "Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik" das Schaufenster nach Westen. Hier war die Versorgung der Bevölkerung besser, als in allen anderen Bezirken der DDR. In der industriellen Landwirtschaft im Bereich Eberwalde war die Schlachtung von Schweinen und Rindern und die Fleischverarbeitung eine Schwachstelle. Es wurde eine Grossanlage gebraucht. Das war der Hintergrund für den Import des Schlacht- und Verarbeitungskombinats Eberswalde/Britz (SVKE). Die Ostpolitik von Willy Brand machte dieses Vorhaben möglich.
Der Ministerrat der DDR beschliesst den Aufbau des SVKEIn den Unterlagen der Behörde des Bundesbeauftragten für die sichergestellten Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (BStU) hat der Beschluss zum Aufbau des SVKE überlebt. Eine vertrauliche Verschlusssache (VVS) der DDR-Regierung:
Der Beschluss besteht aus 22 Seiten inclusive zwei Seiten Anlagen (BStU 000093 bis 000115). Dieser Beschluss kann über folgende Adressen online eingesehen (und ausgedruckt) werden: Von http://www.storyal.de/Story-2016/SVKE-Ori/SVKE-093.gif .... bis http://www.storyal.de/Story-2016/SVKE-Ori/SVKE-115.gif
Die geplante Leistung des SVKEDie Leistungskennziffern des SVKE verweisen auf die Grösse dieser Anlage: Modell des Projekts SVKE aus dem Jahr 1975 - Projektiert von Berlin Consult (BC)
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Daten aus der Beschlussvorlage vom 18. Dezember 1994 |
Ist-Daten Dezember 1976 |
Fast das grösste Problem bei diesem Investvorhaben war die Bereitstellung der benötigten Arbeitskräfte. Der Beschluss geht von 2.000 Arbeitskräften aus, schon ein halbes Jahr später war klar, dass 2.800 Arbeitskräfte für den Zweischichtbetrieb benötigt werden. Aber woher sollen sie kommen? In der DDR gab es keine Reserven etwa in Form von Arbeitslosen. Im Gegenteil, es herrschte immer ein Mangel an Arbeitskräften (s. Arbeitskräfte-Import z.B. aus Vietnam). Der Beschluss legt fest, dass alle Bezirke der DDR die entsprechend qualifizierten Arbeitskräfte nach Eberswalde "delegieren" müssen. Es wurde auch gleich noch festgelegt, wo und wie diese Arbeitskräfte wohnen werden:
Der Beschluss Pkt. 13 regelt die Bereitstellung der Arbeitskräfte nur pauschal. Es gab später noch einen weiteren Beschluss des Ministerrates, der dieses Problem ganz detailliert regelte. Darin wurde beispielsweise festgelegt, welcher DDR-Bezirk bis wann wieviel Arbeitskräfte mit welcher Qualifikation bereitzustellen hatte. Die Bezirke gerieten dabei in grösste Schwierigkeiten, aber die örtlichen Parteiorgane setzten im Verbund mit der Staatssicherheit durch, dass die Festlegungen eingehalten wurden.
Der Beschluss zur detaillierten Bereitstellung von Arbeitskräften für das SVKE konnte leider nicht gefunden werden. Aber in den BStU-Unterlagen existiert ein ähnlicher Beschluss der beim Bau des Palasts der Republik gefasst wurde. Hier zwei Auszüge die zeigen, wie der Ministerrat bis hinunter zum Toilettenwärter (!) geplant hat:
Der Beschluss zum Palast der Republik besteht aus 10 Seiten inclusive drei Seiten Anlagen (BStU 000363 bis 000373).
Dieser Beschluss kann über folgende Adressen online eingesehen werden:
Von http://www.storyal.de/Story-2016/SVKE-Ori/Palast-363.gif
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bis http://www.storyal.de/Story-2016/SVKE-Ori/Palast-373.gif
Der Generalauftragnehmer wurde mit diesem Beschluss dem VEB Ratioprojekt Berlin übertragen. Dieser Betrieb hatte Erfahrung mit der Projektierung, Realisierung, Inbetriebnahme und dem Import schlüsselfertiger Industrieanlagen. Der Betriebsdirektor war Alfred Zimmermann. Er hatte hervorragende Verbindungen zur DDR-Regierung, zur "Sicherheit" und auch zu Schalck-Golodkowski (KoKo). Zimmermann benannte Jürgen Albrecht als den Bevollmächtigten des GAN für das SVKE. Der Produktionsbereichsleiter Eberswalde hatte die Grossbaustelle am Hals, er musste sich mit den Landbaukombinaten der DDR und dem Importeur Berlin-Consult auseinandersetzen und auch die berüchtigten Ministerrapporte über sich ergehen lassen. Immer loyal unterstützt von Alfred Zimmermann und hoch dotiert mit monatlich 1.620 Mark der DDR. Ein Dachdecker auf der DDR-Seite der Baustelle hatte nur 100 Mark weniger.
Die Festlegungen zum Importeur auf der DDR-Seite waren nicht so präzise. Offensichtlich liess man da dem Minister für Aussenhandel freie Hand. Er hatte bereits Erfahrungen mit den Generallieferanten Berlin Consult (BC) gesammelt und er entschied sich dafür, auch mit dieser Firma das SVKE zu importieren. Der erfahrene Aussenhändler auf der DDR-Seite war Heinz Hetmanek, AHB Industrieanlagenimport (IAI).
Die im Punkt Pkt. 16. genannte Aufbauleitung und die unter Punkt 17. c) benannte Koordinierungsgruppe bestand aus Heinz Hetmanek, Jürgen Albrecht und Peter Fischer. Fischer war der Bevollmächtige des Ministers für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, gleichzeitig auch der Vertreter des IAG, des zukünftigen Betreibers des SVKE.
Die Vorbereitungen für das Investvorhaben SVKE sind ein Musterbeispiel sozialistischer Planwirtschaft. Von der zentralistischen Regierung wurden die entscheidenden Voraussetzungen für dieses Vorhaben durch diesen Beschluss geschaffen. Das geht von den Leistungskennziffern über die Finanzierung, die Arbeitskräfte, die Organisation bis hin zum Autobahn- und Gleisanschluss. Der Minister für Bauwesen wurde sogar verpflichtet, 2.750 t Kalk bereitzustellen. Man sah auch schon Probleme mit den vielen ausländischen (westdeutschen) Bauarbeitern voraus (die dann bei zeitweilig 2.000 Arbeitern auf der Baustelle auch tatsächlich eintraten). Deshalb wurde der Minister des Inneren beauftragt, "Massnahmen zur Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit" zu treffen (Pkt. 19.).
Diese Vorbereitung, vor allen Dingen aber die Macht des Ministerrats, diese Beschlüsse mit Hilfe der allgegenwärtigen Partei (SED und MfS) auch wirklich durchzusetzen, hatte entscheidende Vorteile für ein solches Vorhaben. Die Kosten wurden nach einem halben Jahr noch einmal korrigiert, dann aber wurden sie nicht überschritten. Auch die äusserst knapp vorgegebene Realisierungszeit von 33 Monaten (von der grünen Wiese bis zum Beginn des Probebetriebs) wurde eingehalten. Mit Erstaunen sehe ich die Kosten- und Terminüberschreitungen bei öffentlichen Investvorhaben (BER, Staatsoper usw.). Die zu vermeiden benötigt man keine zentrale, sozialistische Planung, sondern nur wasserdichte Liefer- und Leistungsverträge mit dort fixierten, scharfen Sanktionsmöglichkeiten. Solche pönalisierten Verträge aber sind teuer und der öffentliche Auftraggeber glaubt, sich diese Kosten ersparen zu können. Ein grosser Irrtum.
Wie der Ministerrat der DDR gearbeitet hat, ist auch an diesem Vorhaben exemplarisch zu beobachten: Auf der Tagesordnung standen am 18. Dezember 1974 vier Punkte zur Beschlussfassung. Alles sehr komplexe Probleme. Der Ministerrat benötigte für diese schwerwiegenden Entscheidungen nur 55 Minuten. Es wurde nur abgenickt, entschieden war alles bereits vorher. Von diesem Protokoll existieren 31 Ausfertigungen. Wahrscheinlich wurden diese Beschlüsse mit 30 Ministerien und anderen Regierungsstellen im Vorfeld im Detail beraten und abgestimmt. Der Ministerrat musste sich intensiv wahrscheinlich nur mit den bereits gefassten Beschlüssen beschäftigen, die nicht sach- und termingerecht erfüllt wurden. Dabei gab es immer einen klar verantwortlichen Minister, der im Ministerrat unter Feuer genommen wurde: Mit Hinweis auf seinen doch hoffentlich unerschütterlichen Klassenstandpunkt: Bist Du für den Frieden, oder nicht?! Sachargumente zählten nicht.
In den Unterlagen findet sich auch ein Beispiel für eine solche Abstimmung des Ministeriums für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft mit dem Ministerium für Staatssicherheit:
Zu dieser Abstimmung existieren 5 Dokumente (BStU 000116, 000120, 000140, 000141 und 000141a).
Diese Seiten können über folgende Adressen online eingesehen werden:
Von http://www.storyal.de/Story-2016/SVKE-Ori/Mielke-116.gif
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bis http://www.storyal.de/Story-2016/SVKE-Ori/Mielke-141a.gif
Informationen und Bilder zum SVKE www.storyal.de ...
Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik https://de.wikipedia.org ...
Zentralverwaltungswirtschaft (Planwirtschaft) https://de.wikipedia.org ...
UDO SCHEER | JOACHIM RAGNITZ
Die sozialistische Planwirtschaft der DDR, ISBN 978-3-941904-30-9 http://www.kas.de ...
Erich Apel und das Neue ökonomische System www.storyal.de ...
Ostpolitik (Wandel durch Annäherung) https://de.wikipedia.org ...
Eberswalde https://de.wikipedia.org ...
VEB Schlacht- und Verarbeitungs-kombinat Eberswalde/Britz (SVKE) http://wirtschaftsgeschichte-eberswalde.de ...
Jürgen
Albrecht, 16. Januar 2016
update:
24.01.2016