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Zurück nach Europa

 

 

 

 

 

FLY WITH ARTHUR
THE BUSHCAMPER

09. Oktober 1998, Freitag

 

Ach, hab‘ ich gut geschlafen, auch wenn die Matratze viel zu weich war. Als ich gegen 6 Uhr aufwachte, waren es nur 23 Grad in der Kabine. Schon eine ganze Weile habe ich keine so kühle Nacht mehr erlebt! Im Outback fiel die Temperatur nie unter 28 Grad und das auch nur zwischen 4 und 7 Uhr am Morgen. Ich stehe erst gegen 8 Uhr auf, auch heute habe ich viel Zeit. Als ich vom Rasieren und Duschen zurück gehe, treffe ich die kleine Asiatin, die schon wieder vor den Waschmaschinen steht. Wir verabschieden uns herzlich. Gestern haben wir eine Viertelstunde zusammen geplauscht. Dabei erzählte sie mir, dass sie zwei Söhne, leider aber keine Enkelkinder hat. Sie wohnt hier als Dauercamper mit einem ihrer Söhne. In ein paar Tagen feiert sie Geburtstag, dann wird sie 73 Jahre alt. Was werde ich in 10 Jahren machen? Auf alle Fälle werde ich nicht die Wäsche anderer Leute waschen.

Während ich frühstücke sehe ich die neuesten Nachrichten aus Deutschland über den TV-Kanal der Deutschen Welle. Jeden Morgen um 8:30 Uhr kann man sich so in deutscher Sprache informieren. Solche nationalen Programme gibt es in Australien auch für Franzosen, Italiener und Chinesen. Es können auch noch mehr Programme sein, diese aber kann ich schon hier im CarPark sehen.

Dann packe ich meine beiden Rucksäcke und wundere mich, dass ich nicht mehr Gepäck habe. In den grossen Rucksack ginge noch viel rein. Das liegt an meinem blauen Seesack. Der ist nicht gross (ca. 20 Liter) aber das macht viel aus. In Wirklichkeit habe ich auf der Rückreise mehr Gepäck als ich hier her gebracht habe: Steine, Prospekte, Geschenke, Schuhe, auch mein erstes Reisebuch steckt in dem Seesack. Beim Office bezahle ich meine letzte Rechnung und versichere der netten Dame, dass ich wiederkommen werde ... ‚For ever, for ever ...!‘ rufen mir die Tauben zu und das ist zweideutig und man kann es auslegen, wie es einem am besten gefällt! Natürlich komme ich immer wieder hier her, sollte ich jemals wieder nach Cairns zurückkehren. Das ist eine sehr preiswerte und mit der Küche auch eine sehr funktionelle Accommodation.

Genau eine Minute vor 10 Uhr sitze ich in der Taxe zum Flughafen. 20 Minuten später schon bin ich mein Gepäck los und habe die Bordkarten bis London in der Tasche. Jetzt habe ich wieder drei Stunden Zeit in der Departure Lounge, heute ist es aber die vom Airport International. Für Leute mit Kreditkarte ist hier von der Tasse Kaffee bis zum Schmuckstück für 25.000 $ alles zu haben. Die Masse des Angebots aber besteht aus den typischen Australia-Souvenirs: Koala, Boomerang und Känguruh. Ein Aboriginal gibt sich dazu her, für so einen Souvenirshop zu werben. Er sitzt fast nackt und archaisch bemalt auf dem polierten Marmorfussboden und spielt Didgeridoo. Besser kann das Elend dieses Volkes nicht demonstriert werden.

Die vielen verlockenden Geschäfte sind zum letzten Angriff auf das Portemonnaie der Touristen angetreten. Auch bei mir haben sie Glück damit. Eigentlich wollte ich nur Crocodile Jerky kaufen (getrocknetes Krokodilfleisch), aber meine Emotionen zücken auch noch die CreditCard in einem Opalgeschäft. Alle Mädchen in Berlin bekommen jetzt Opale. Ich habe immer noch etwas für Heike gesucht, aber ich weiss noch zu wenig von ihr. Über einen Opal aber freut sich jede Frau. Die schöne Anti-Ozonloch-Sonnenbrille, die ich Stefan mitbringen wollte, gibt es hier leider nicht. Es bewahrheitet sich wieder: Du muss kaufen, wenn es Dich anspringt! Später ist es teurer oder die Gelegenheit kommt nicht wieder. In der Inland Departure Lounge war z.B. das Crocodile Jerky 30 % billiger, als hier. Hier ist alles international, auch der Preis.

Jetzt habe ich eingekauft und habe auch einen Kaffee getrunken. Ich sitze bequem in einem breiten Sessel und sehe durch hohe Glaswände auf die Flugzeuge und die Berge von Cairns. Die fünf Wochen Australien sind schon wieder vorbei: Jetzt geht es zurück nach Europa. Die Wehmut, dieses schöne Land zu verlassen mischt sich mit Vorfreude: Bald sehe ich alle meine besten Freunde wieder! Auch auf meine schöne Wohnung freue ich mich, in der mich stapelweise Post erwarten wird.

12 Uhr, Airport Cairns

Jetzt habe ich schon sechs Stunden Flug und Australien hinter mir. Vor 45 Minuten bin ich in Singapore, Airport Changi, gelandet. Ein ruhiger, schöner und interessanter Flug. Ich sass auf der richtigen (linken) Seite und am Fenster. Beim Start konnte man zum Abschied sehr schön noch einmal die Küstenlinie und die Berge von Cairns sehen. Ich habe wieder Fotos von dem mäandernden Fluss an der Küste des Golfs von Carpentaria gemacht.

 

 

Je näher wir Darwin kommen, desto grösser werden die Gewitterfronten, die wir durchfliegen. Eine kurze Zwischenlandung in Darwin und beim Start eine schöne Sicht auf das Stadtzentrum.

 

 

Dann geht es stundenlang dem Sonnenuntergang entgegen, denn wir fliegen mit der Zeit. Herrliche Spiegelungen, faszinierende Strukturen und Farben auf der Wasseroberfläche unter uns und sehr unterschiedliche Wolken:

 

 

Von glasigem Dunst bis zu grossen, schwarzen Gewitterzellen, die nach unten spitz zulaufen und wie Tornados aussehen. Solche phänomenalen Wolken habe ich noch nie gesehen! Das allerletzte Foto dieser Tour zeigt eine solche Wettermaschine. Als nach ca. drei Stunden dann die Sonne in diesen Riesenwolken untergeht, habe ich auf diesem Flug schon wieder einen ganzen Film verbraucht. Es war der letzte ...! Aber wie immer hat Scharno recht, man muss auch mal etwas geniessen können, ohne gleich wieder Bilder davon mit nach Hause bringen zu wollen.

Das fiel mir nicht schwer, denn von Darwin bis Singapore sass Arthur, ein holländischer Bushwalker, neben mir. Wie der Zufall so spielt ... Plötzlich treffen sich zwei wildfremde Leute und unterhalten sich drei bis vier Stunden intensiv über alle grossen Fragen dieses unbegreiflichen Lebens, sie haben sofort die gleiche Wellenlänge, ähnliche Gedanken und Überlegungen. Dann gehen sie aber wieder auseinander, um sich wahrscheinlich nie mehr wieder zu sehen!

Arthur setzte sich in Darwin neben mich. Zuerst dachte ich, ein professioneller Ranger auf Dienstreise. Er ist sehr korrekt und ganz in Leinen und Khaki gekleidet, relativ neuer Aussie-Lederhut. Bei ihm sieht das fast wie eine Uniform aus. Er ist ca. 45 Jahre alt, mittelgross, schlank, hat dunkle Haare und ist gerade frisch rasiert. Er sitzt noch keine 5 Minuten, da packt er Karten aus der Gegend von Katherine aus: Messtischblätter, made by satellite. Solche Karten habe ich immer gesucht, aber in Australien noch nie gesehen. Sofort kommen wir ins Gespräch. Warum eigentlich gibt es in Australien keine anständigen Karten? In Norwegen kann man sie an jedem Kiosk kaufen. Auch Arthur weiss keine Antwort, er hat sie sich in Europa besorgt. Er braucht sie, weil er mit GPS unterwegs ist. Er arbeitet als Beamter beim holländischen Staat. Er hasst diesen Job, weil er unterfordert ist und ihn diese Arbeit absolut nervt. Er ist verheiratet, lebt mit seiner Frau ohne Kinder in einer mittelgrossen Stadt. Beide haben einen Weg gefunden, sich nicht auf den Wecker zu gehen: Sie ist Malerin und geht in ihrem Atelier auf und er findet seinen Frieden, indem er sich mindestens einmal im Jahr für vier bis sechs Wochen in den australischen Bush zurück zieht. Er nimmt das aber wörtlich und geht mit Rucksack und Zelt in den unwegsamen, menschenleeren Bush. Dort wandert er in Etappen 100 bis 150 km (täglich maximal 10 km), schläft im Zelt und versucht mit den geringsten Mitteln zu überleben. Er will alleine sein, er ist alleine und nach 4 bis 5 solchen Gewalttouren im Outback fliegt er wieder nach Hause und zu seinem ungeliebten Arbeitgeber zurück.

Arthur meint, dass er nur dadurch seinen inneren Frieden finden, seinen Job und dieses ganze Leben ertragen kann. Er braucht die Einsamkeit und den unmittelbaren Kontakt zur Natur, um sich vom Beamtenstress wieder frei zu machen, um sich vom Leben in der Zivilisation zu erholen. Kinder hat er mit seiner Frau nicht, Geld ist genug da, aber er sucht nach dem Sinn dieses Daseins und hat die Vorstellung, das der grösste Sinn darin bestehen kann, der Natur und all ihren Lebewesen möglichst nahe zu sein. Das ist zwar nicht komplett meine Sicht der Dinge, aber ich kann es mindestens verstehen. Wir sind uns einig, dass uns die Religionen nicht helfen können und dass viele Fragen für immer unbeantwortet bleiben werden. Aber es ist absolut faszinierend, diese unerschöpfliche Natur möglichst bewusst zu sehen und ihre Vielfalt und Komplexität zu bestaunen. Es ist verblüffend, wie gut wir über solche abstrakten Fragen miteinander reden können. Wir haben die gleiche Begeisterung für die menschenleere Natur, wir sind beide alleine unterwegs und wir haben beide herrliche Nächte im Zelt unter dem klaren australischen Sternenhimmel verbracht. Und plötzlich sitzen wir für ein paar Stunden nebeneinander!

Es nötigt Arthur eine gewaltige Hochachtung ab, dass ich sofort und überall die aktuellen Sternenkarten dabei habe und auch das Digitalthermometer immer griffbereit ist. Ich dagegen bestaune sein GPS und lasse mir erklären, wie einfach man damit im unwegsamen Gelände navigieren kann (wenn man die richtige Karte hat!). Ich bin überrascht, dass mein English ausreicht, um mit Arthur ein flüssiges Gespräch über solche Fragen zu führen. Arthur möchte unbedingt meine Visitenkarte haben. Als er sieht, dass er sich mit einem Professor und noch dazu einem aus Deutschland (das scheint noch eine deutliche Steigerung zu sein !!) unterhalten hat, ist er erstaunt und begeistert, dass er sich als ‚unstudierter‘ Mensch überhaupt mit einer solchen ‚intelligence bomb‘ verständigen kann. Mit keinem seiner Kollegen kann er sich über solche Probleme unterhalten! Seine Kollegen haben ihn mal gefragt, was er denn im Outback eigentlich den ganzen Tag macht: ‚Ich sitze manchmal stundenlang und denke an absolut nichts!‘ Das kann ich noch nicht. Aber das will ja der Buddhismus erreichen: Unendlich lange verharren in der Pause zwischen zwei Gedanken ...! Von Buddhismus weiss Arthur nichts, aber genau das ist es, was ihm Ruhe verschafft: Das absolute Nichtstun und Nichtsdenken, dann sich aber wieder einer extremen Herausforderung unter eigentlich ‚unmenschlichen‘ Bedingungen stellen.

Als wir uns in Singapore noch im Flugzeug verabschieden versichert mir Arthur, dass er mir sofort eine E-Mail schicken wird, sobald er das erste Mal wieder an seinem Arbeitsplatz sitzt. Wahrscheinlich ist er noch unterwegs, denn bis heute (06. März 1999) ist keine Mail eingegangen. Dafür werde ich ihm heute mal eine Mail schicken. Ich merke aber gerade, dass das nicht geht: Ich habe nur seine Adresse habe, die E-Mail-Adresse seines Arbeitgebers wusste er nicht ...!

Hier im Flughafen von Singapore wollte ich ins Internet gucken und eine letzte Mail absetzen. Was kostet hier dieser Service? Ich frage an der Information und man schickt mich in das Business Center, dort soll das angeblich funktionieren. In diesem Center aber werden seit 21 Uhr keine Geschäfte mehr getätigt. Es gibt noch einen E-Mail-Automaten hier im Airport Changi. Mehr als der Name ist von aussen nicht zu sehen und als erstes soll man seine VISA Karte in einen Schlitz stecken, sonst passiert gar nichts. Eine psychologisch völlig verfehlte Konstruktion, denn man kann absolut nicht erkennen, wie das hier funktionieren soll, wieviel und wofür von der Karte abgebucht wird. Keine Bedienungsanleitung, keine Erläuterung, nichts. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendwer schon jemals diesen Automaten benutzt hat. Auch mir fällt nicht im Traum ein, der lapidaren Aufforderung des Bildschirms zu folgen: ‚Insert your VISA Card please !‘

Jetzt ist es 22 Uhr, mein nächste Flieger startet um 22:50 Uhr. Auf diesem Flug wird es eine endlose Nacht geben (14 Stunden ...?), weil wir mit der Zeit fliegen. Sehr früh am Morgen werden wir dann in London landen. Aber in dieser Nacht werde ich mich richtig ausschlafen. Ausserdem habe ich in Darwin einen alten SPIEGEL gefunden, damit wird die Zeit schnell vergehen. Hier in Singapore hätte ich den neuesten SPIEGEL kaufen können. In Darwin und Queensland habe ich nie einen gesehen. Aber auch ein alter SPIEGEL ist für mich brandaktuell, der reicht dicke bis Berlin!

22 Uhr, Airport Changi, Singapore

 

 

 

 

 

 

 

NACHTFLUG
NACH BERLIN

10. Oktober 1998, Sonnabend

 

Ein Erlebnis für sich ist so ein Intercontinental Airport und das Fliegen selber. Wenn man schon ein paar Mal geflogen ist, empfindet man vieles schon als völlig selbstverständlich, obwohl es das überhaupt nicht ist. Wie werden die Menschen in zehn oder einhundertundzehn Jahren reisen? Im Jahre 1998 funktioniert das so:

Boarding in Singapore um 22 Uhr, die Boing 747.400 soll um 22:40 Uhr starten. Boarding heisst, Bordkarte, Pass und Handgepäck werden kontrolliert und dann müssen 800 Menschen (!!) auf engstem Raum und auf einer Ebene eines solchen Flugzeugs verstaut und befestigt werden. Schon allein das in einer knappen Stunde zu bewältigen ist eine logistische Leistung. Es klappt nur, weil sich alle freiwillig auf engstem Raum zusammenpferchen lassen. Der Start verzögert sich, es geht erst ¼ Stunde später als geplant los.

Aber was ist das für ein Start! Es ist dunkel in Singapore, fast Mitternacht. Es ist warm und schwül, Gewitter hängen in der Luft, nichts ist von Mond und Sternen zu sehen. Die Maschine hat vier riesige Düsentriebwerke unten an den Flügeln hängen, jedes mindestens zwei Meter im Durchmesser. Bis an den Rand sind alle Tanks mit hochexplosivem Flugbenzin gefüllt: Eine Bombe, noch auf 16 grossen Rädern. Ich weiss nicht, was so eine Maschine wiegt, 100 Tonnen? Aber mindestens so viel wie ein australischer Road Train. Und dieser 100 Meter lange Road Train soll sich in die Luft erheben und fliegen! Mit den Düsentriebwerken kann diese Maschine auch auf einer Strasse schnell fahren, wenn sie breit genug ist und beim Start macht sie das auch. Sie fährt ganz langsam zur Startposition und bleibt stehen.

Wenn sie die Starterlaubnis hat, kommt das abenteuerlichste der ganzen Fliegerei: Der Pilot tritt ruckartig das Gaspedal durch und mit donnernden Triebwerken fängt sich die Maschine an zu bewegen. Mit höchster Leistung beschleunigt sie wie ein sehr schnelles Auto und hat nach ca. 30 bis 40 Sekunden eine Geschwindigkeit von 350 km/h erreicht. Dann dirigiert der Pilot einfach ihre Nase in den Wind, die ganze Maschine kippt schräg nach oben. Wenn man wie ich, hinten im Heck sitzt, sieht man genau, dass man jetzt einen Winkel von ca. 25 bis 30 Grad bergauf gehen müsste, wollte man im Gang nach vorne laufen. In dieser Position löst sich die Maschine von der Startbahn: Sie fliegt und die ganze Last der 100 Tonnen hängt an den Flügeln. Bis zu einen Meter biegen die sich dadurch nach oben durch! Man kann es deutlich sehen, sie sind wie Flitzbogen nach oben gebogen. Diese Flügel sind eine ingenieurtechnische Meisterleistung. Starr, aber trotzdem hoch elastisch, gleichzeitig Benzintank, Aufhängung für die Triebwerke und Auftriebsorgan mit verstellbaren Eigenschaften. Deshalb sind im Flügel auch noch eine Unzahl von Steuerungselementen untergebracht.

Es dauert bis zu 15 Minuten, bis die Maschine ihre Reisegeschwindigkeit von 900 km/h und eine Flughöhe von 10.000 Metern erreicht hat. Dann liegt sie gerade in der Luft, es rattert, schlingert, rüttelt oder es ist alles völlig ruhig, je nach Flugzeugtyp, Sitzposition und Flugwetter. Mit dieser Geschwindigkeit fliegt die Maschine 13 bis 14 Stunden non stop, bis sie in London wieder landet. Die Landung ist deutlich unspektakulärer als der Start. Wenn man nicht darauf achtet, merkt man überhaupt nicht, dass die Maschine landet.

Wie finden die Piloten in Dunkelheit, Wolken, Gewitter, Kälte und ohne jede Sicht den Weg um die halbe Erde ...? Rätselhafte Technik! Wie kann man 14 Stunden so konzentriert arbeiten? Der kleinste Fehler kostet 800 Menschen das Leben. Wie kann so eine riesige Turbine eine solche Dauerleistung vollbringen – ohne Absturz des Betriebsystems ?! Wie wird die Luft so aufbereitet, dass man in der Maschine nicht friert (Aussentemperatur minus 50°) und vom Unterdruck nichts merkt? Alle diese Fragen wurden durch Ingenieure gelöst, die sich (erst ...) seit 100 Jahren mit Flugzeugen befassen und viele ihrer Erfahrungen mit spektakulären Unfällen bezahlen mussten.

Innen im Flugzeug sitzen die Menschen auf mehr oder weniger bequemen Sitzen. Die meisten von ihnen sitzen in der billigsten Klasse auf engstem Raum zusammengedrängt: 10 mit Gurten an ihren Sitzen befestigte Menschen in einer Reihe, quer zur Flugrichtung. 3 – 4 – 3 Sitze, dazwischen ein schmaler Gang. Nur ganz rechts und ganz links gibt es in jeder Reihe ein Fenster, es ist nicht grösser, als ein Blatt im Format A4! 14 Stunden muss man auf diesem Platz ausharren. Man bekommt zu Essen und zu Trinken, die Toiletten sind schwierig zu erreichen und extrem eng, aber es gibt welche. Über seinem Sitzplatz kann man eine Lampe anmachen, an einer Projektionswand laufen Filme, den Ton holt man sich über Kopfhörer dazu. Es gibt mehrere Monitore, jeder kann sie mehr oder weniger gut von seinem Platz aus erkennen. Es laufen die geistlosesten Filme, die man sich überhaupt vorstellen kann. Aber das Durchschnittspublikum will das wohl genau sehen. Gott sei Dank gibt es keine Lautsprecher. Die Kopfhörer kann man benutzen, man kann es aber auch lassen.

Von Zeit zu Zeit werden auf den Monitoren eine Landkarte mit der Flugposition und die Daten von Flughöhe, Geschwindigkeit und die verbleibende Zeit bis zum Zielort eingeblendet. Vor 30 Minuten war es wieder so weit: Es ist jetzt 8 Uhr, Singapore Time, wir sind an der Südostspitze des Schwarzen Meeres und bis nach London müssen noch 4:10 Stunden vergehen. Mehr braucht man nicht zu wissen und mehr Informationen bekommt man hier auch nicht. Was jeder Fluggast aber unbedingt mitzubringen hat ist: Blindes Vertrauen in die Piloten und die Technik. Denn er ist zur völligen Passivität verurteilt und er muss damit fertig werden, 14 Stunden tatenlos und de facto blind auf seinem Sessel angeschnallt sitzen zu bleiben.

In dieser billigsten Klasse sitzen die Menschen praktisch auf Tuchfühlung neben-, vor- und hintereinander. Die normale Fluchtdistanz ist deutlich unterschritten. Es stellt sich das Fahrstuhlproblem ein: Wildfremde Menschen, die sich u.U. nicht mal miteinander verständigen können, weil sie unterschiedliche Sprachen sprechen, sind dazu verdammt, 14 lange Stunden ein intensives Deodorant, intime Geräusche und Körperkontakt mit ihren Nachbarn rundherum auszuhalten. Mundgeruch, Intimprobleme, Schlafen, Schnarchen, Essen ... wie verhält man sich zu seinem zufälligen Nachbarn?

Drei Flüge, drei völlig unterschiedliche Situationen: Cairns-Darwin: Neben mir ein gleichaltriger, aber doppelt so schwerer Herr, korpulent, weisse Haare. Er sagt nicht Guten Tag oder Auf Wiedersehen, er liest ein Buch, er schläft, er schnarcht und er behandelt die Stewardessen wie den letzten Dreck: ‚Wake me up in Darwin!!‘ weist er die Stewardess im Befehlston an. Er steigt zum Glück in Darwin aus. Darwin-Singapore: Selten habe ich so intensiv mit einem völlig fremden Menschen unterhalten wie mit Arthur, dem Bushwalker! Die Zeit verging buchstäblich im Fluge. Singapore-London: Neben mir eine hübsche, junge Frau, der Sprache nach kommt sie aus Australien. Wir lächeln uns höflich an, wir stellen keine Fragen, wir schlafen stundenlang nebeneinander (!), aber wir haben die Kommunikation auf das absolut Notwendigste reduziert. In London werden wir uns beim Aussteigen noch einmal pflichtgemäss zulächeln und dann trennen sich unsere Wege für immer.

Für mich ist so ein Flug immer wieder ein ausserordentliches Erlebnis. Auch wenn ich schon viel geflogen bin und hoffentlich auch noch ein paar Mal fliegen werde, für mich wird es nie alltäglich werden. Denn es ist einfach keine alltägliche Situation, es ist ein technisch hoch komplexer Vorgang und ein halbes Wunder, wenn alles reibungslos funktioniert. Der Start ist emotional der Höhepunkt. Hier spürt man mit allen Sinnen, welche Kraftanstrengung erforderlich ist, so einen starren Haufen Metall zum Fliegen zu bewegen. Ist man erst mal oben, merkt man weder etwas von der Geschwindigkeit noch von der Antriebsleistung der Turbinen. Ich versuche immer, einen Fensterplatz zu ergattern: Wie selten sieht man unsere Erde aus dieser Perspektive !? Nur stundenweise ist das möglich. Deshalb sehe ich auch meistens aus dem Fenster, solange es überhaupt etwas zu sehen gibt. Diese Wolken !! Diese Sonnenauf- und –untergänge! Inseln, Meere und Länder sehen von hier oben aus wie im Atlas. Wenn man ein ganz besonderes Glück hat (diesmal nicht), sieht man den Sternenhimmel, den Mond oder ein Gewitter bei Nacht. Ein absolutes Highlight war die Sicht auf den Kometen Hale-Bopp vom Flugzeug aus. Das war auf dem Rückflug von Vietnam mit Scharno. So etwas kann man nicht vergessen! Ansonsten lese ich, schreiben kann man auch, wie man sieht. Und schlafen muss man bei so einem langen Flug in dieser Sitzposition auch können – das allerdings will gelernt sein.

Von 1 Uhr bis 7 Uhr, Singapore Time, habe ich wirklich gut geschlafen. Dieser Flug hier ist meistens sehr ruhig, aber bei den wenigen Turbulenzen (gleich nach dem Start) schwankte die Bude hier hinten ganz schön, ungefähr so, wie bei einem mittelschweren Erdbeben. Um 8 Uhr wurde das Frühstück serviert. Vorher wurde jedem Fluggast ein kleines, weisses und heisses Tuch gereicht: Die absolute Minimalversion der Morgentoilette. Die Toiletten werden heftig frequentiert, Anstehen ist der Normalfall. Das Aufstehen und das Hinsetzen erfordert meistens, dass die Nachbarn aufstehen müssen. Das ist lästig und man überlegt es sich genau, ob das sein muss.

Aber alle Menschen akzeptieren diese Art zu Reisen. Es ist inzwischen so billig (Australien-Europa hin und zurück 1600 DM ...), dass jeder der Arbeit hat, sich mindestens einmal im Jahr einen solchen Interkontinentalflug leisten kann. Und die meisten leisten ihn sich auch. Ein boomender Wirtschaftszweig mit jährlich 80 Millionen (!) Passagieren weltweit.

Die Daten von 9:38 Uhr, Singapore Time: 843 km/h, 10.670 m hoch, aussen – 54°, noch 2:28 Stunden bis London, draussen ist es stockdunkel, dichte Wolkendecke, keine Sicht nach oben.

9:48 Uhr Singapore Time, zwischenBukarest und Budapest

London Heathrow, Terminal 1 hat den Charme einer umgerüsteten Produktionshalle: Stahlkonstruktion, Flachbau, simpel verblendet, schlecht beleuchtet, ohne Farbkonzept, billig möbliert. Dagegen war Schönefeld in den 80-er Jahren ein Prachtbau. Nur die vielen Shops machen das Ganze lebendig. Die Architekten haben darauf gesetzt, dass 95 % der hier wartenden Fluggäste sich auf die Shops und Restaurants konzentrieren und den Baukörper über den Shops nicht wahrnehmen. Diese Kalkulation mag in der Regel aufgehen, aber weil man hier in diesem funktionalen, aber visuell scheusslichen Gestühl stundenlang warten muss, schweift der Blick automatisch auch nach oben und in die Runde dieser öden Halle.

Vor 1 ½ Stunden sind wir gelandet. Sicher, ruhig, mit 260 km/h und ohne Probleme. Leider fand der Flug vom Start bis zur Landung in der Dunkelheit statt. Nichts war zu sehen. Entweder es waren viele Wolken unter und über uns, oder die Innenbeleuchtung war zu hell. Nur als wir in der Nähe von Linz waren, sah ich fasziniert nach draussen: Sternenhimmel, Dunststreifen am Horizont, beleuchtete Städte und Dörfer unter uns und ein Flugzeug, 200 Meter tiefer und in 2 km Abstand zu unserer Maschine auf gleichem Kurs. Ein schönes Bild, aber die Innenbeleuchtung wurde eingeschaltet und damit war es aus mit der Sicht nach draussen. Die Flugroute verlief etwas weiter südlich, als nach Berlin: 10:30 Uhr Linz, 11:20 Uhr Aachen. Gila stand nicht im Garten, als wir in 10.000 Meter Höhe über ihr Haus in Ratingen flogen ... Um 11:35 Uhr überfliegen wir die südliche Kanalküste und 30 Minuten später landen wir in London, Local Time 5:04 Uhr. Das Aussteigen dauert ungewöhnlich lange, aber danach geht alles wieder so einfach, wie man es sich als DDR-Mensch kaum vorstellen kann: Mit dem Bus von Terminal 3 zu Terminal 1, die Bordkarte für den Flug nach Berlin wird ausgestellt (ich vergesse, nach dem Fensterplatz zu fragen und habe dann auch keinen ...), Rasieren, Toilette, Umtausch Australischer Dollars in Englische Pfund, Kaffee, Croissant ... Schon ist wieder alles erledigt und ich habe drei Stunden Zeit in London! Dieses Mal fahre ich nicht in die City, die Zeit ist zu kurz und jetzt will ich nur noch eines: Nach Hause!

Im Bush, bei den riesigen Termite Cathedrals, habe ich mich gefragt: Wie können diese Termiten so einen Bau zustande bringen, ohne ein Modell dieser Konstruktion in ihrem Kopf zu haben ?? (Eine der entscheidendsten Voraussetzungen für das menschlichen Denkens ist offensichtlich die Modellbildung! Wie recht hatte MJ, das Modell als eine eigene Klasse zu behandeln!) Die Lösung kommt aus London Heathrow: Der Busfahrer hat mit Sicherheit auch kein Modell dieses komplexen Airports im Kopf. Genau so wenig, wie die Lady am Check-In-Schalter oder der Security-Mann. Aber alle tun eine ganz bestimmte, klar definierte Arbeit und sie verrichten sie sorgfältig, exakt und jeden Tag in gleicher Weise. Die vielleicht 500.000 Einzelverrichtungen, jede für sich völlig sinnlos (!!), ergeben in ihrer Gesamtheit den funktionierenden Airport Heathrow. Ein Schulbeispiel für den Dialektischen Materialismus: Der Umschlag von Quantität in Qualität. Nur ein kleines Problemchen bleibt: Alle Einzelverrichtungen von Heathrow sind in einem von Menschen gemachten Generalkonzept enthalten, werden vorgegeben und den Ausführenden in z.T. jahrelang andauernden Qualifikationsverfahren eingetrichtert, bis sie in weiten Teilen zum Stereotyp geworden sind. Wer macht das bei den Termiten und wie? Lässt sich diese Frage lückenlos mit den Begriffen ‚Entwicklung‘ und ‚Evolution‘ beschreiben? Verfolgt die Evolution von Anfang an Ziele wie z.B. den Bau einer solchen Termite Cathedral? Mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht, aber die Evolution bringt ein hoch komplexes, sinnvoll funktionierendes Gebilde zustande. Was ist das? Was ist Leben ?!? Wieder ein paar Fragen, zu denen MJ bedenklich den Kopf wiegt und meint dass es sinnlos ist, solche Fragen zu stellen. Einverstanden. Ich stelle die Fragen ja gar nicht. Sie stellen sich. Ich nehme das nur wahr und zur Kenntnis ...!

7:10 Uhr, London Heathrow

Jetzt ist mein Flug schon auf dem Monitor avisiert: 10 Uhr Berlin-Tegel: Wait in Lounge! Es ist 8:25 Uhr und ich habe in der letzten Stunde meinen Emotionen freien Lauf gelassen und mich dem Kaufrausch hingegeben: Weihnachtsgeschenke von Harrods ... English Tea, English Ginger-Extra-Jam und eine Krawatte, bei der ich nach dem ersten Blickkontakt wusste, dass ich nicht widerstehen konnte, egal, welcher Preis da zum Vorschein kommen würde! Gott sei Dank waren es nur ca. 100 DM, ein normaler Preis für eine gute Krawatte. Dann kaufe ich mir nach langen Systemvergleichen einen neuen Organiser: SHARP ZQ-475, 128 KB, mit allen Schikanen, die heute geboten werden. Er kostet 125 DM und kann nicht viel mehr, als der von CASIO, den ich seit drei oder vier Jahren benutze. Aber man gönnt sich ja sonst nichts! Ausserdem muss man sich auf dem Stand der Technik halten, wenn man in ein Lehramt an einer deutschen Universität berufen worden ist ...! Mit grosser Wahrscheinlichkeit aber ist so ein Kaufrausch nur die Befriedigung steinzeitlicher Begierden: Es muss soviel Zeug wie möglich in die eigene Höhle oder in das markierte Revier geschleppt werden! Ob man es tatsächlich braucht, ist nebensächlich. Hauptsache, es wird ein Mehrwert realisiert! Egal !! Solange die Kreditkarte noch funktioniert, wird der Verstand einfach abgeschaltet.

8:30 Uhr, London Heathrow

Jetzt bin ich kurz davor, in mein schönes, breites und eigenes Bett zu gehen! Ich bin müde wie ein toter Hund. Der Jet-lag macht mir zu schaffen. Ich habe kein Zeitgefühl, ich weiss nicht, ob es früh, mittags oder abends ist. Da hilft nur umfallen!

Um 12:31 Uhr bin ich heute hier wieder gelandet. 20:42 Stunden reine Flugzeit liegen zwischen Cairns und Berlin. Wider Erwarten haben mich Heike und Stefan abgeholt. Das hat mich überrascht und unwahrscheinlich gefreut. Nötig wäre es ja nicht gewesen, aber weil wir uns seit Anfang August nicht mehr gesehen haben: Eine tolle Überraschung! Wir fahren mit Stefans Auto im kalten Regen (!!) nach Hause. Um 13:30 Uhr stehe ich wieder in meiner schönen Wohnung. Aber nur für ein paar Minuten. Wir laden nur das Gepäck ab und gehen dann runter zum Chinesen essen. Ich rufe vorher nur kurz Mami an, bei Cati und Conny ist keiner da, sie sind in Tunesien. Beim Essen reden wir über Canada und Australien, herrlich, wenn man so um die Welt fliegen kann.

Ab 15:30 Uhr bin ich dann alleine in meiner Wohnung. Ich rufe Reiner an, der mir zur Begrüssung ein Fax geschickt hat. Auch von Conny ist eins angekommen. Dann packe ich Rucksack und Seesack aus, zwei Waschmaschinen sind schon durchgelaufen. Gegen 18 Uhr schalte ich das erste Mal den Rechner wieder ein und erlebe ein Desaster: Wie heisst mein Passwort ??!! Bis zu den Mails, die alle angekommen sind, schaffe ich es, aber für mehr brauche ich das Passwort und das hat der australische Bush in meinem Kopf gelöscht !! Vielleicht fällt es mir morgen wieder ein ... Ich mache den Rechner wieder aus, Abendbrot, Nachrichten, Wäsche aufhängen und jetzt gibt es nur noch eines: Ins Bett !!

20:40 Uhr, Leipziger Strasse 47, Berlin

Heute und jetzt, am Sonntag, 07. März 1999, um 12:00:39 Uhr bin ich mit dem Abschreiben des Textes der beiden Reisebücher fertig! Aber bis zum Drucken ist noch einiges zu tun: Korrektur lesen, endgültiger Umbruch, Fotos zuordnen, Fotos nachbestellen, Original ausdrucken, Original kopieren und alles binden. Spätestens in drei Wochen bin ich damit fertig. Dann ist Ostern 1999 und ich bin Rentner. Ein neues Leben beginnt! Gestern habe ich einen wichtigen Termin fixiert: Am 07. September 1999 starte ich zu einer neuen Tour: Ein Jahr mit CamperVan round Australia !!

 

 

 

 

 

 

AUSTRALISCHER
ABGESANG

17. Oktober 1998, Sonnabend

 

Eine ganze Woche bin ich heute schon wieder in Deutschland. Wie die Zeit rennt. Aber mein Kopf ist noch oft in Australien und ich kann die vielen engstirnigen Probleme nicht ernst nehmen, mit denen ich hier wieder konfrontiert werde.

Das erste Problem fischte ich aus der Post: Das Finanzamt will von mir 2.500 DM anstatt dass es mir – wie bisher jedes Jahr – 3 bis 5000 DM zurück erstattet. Es war sehr schwer für mich zu verstehen, woher dieser Sinneswandel kommt und diesen Leuten einen Brief zu schreiben. Es hängt mit unserem Steuersparmodell für Spindlersfeld zusammen, das unter den gegenwärtigen gesetzlichen Bedingungen wahrscheinlich nicht mehr funktioniert. Das ist in der Zukunft Stefans Problem.

Dann fuhr ich für zwei Tage nach Halle. Schon über E-Mail hatte man mir mitgeteilt, dass es Streit um meine Vorlesungszeit (donnerstags) gibt. Wo ist das Problem? Ich halte meine Vorlesung jetzt am Dienstag, den Kurs 3D-Konstruktion mache ich am Mittwoch und dann fahre ich wieder nach Hause. Probleme gibt es in Halle genug, aber sie tangieren mich kaum noch. Es ist ganz erstaunlich, wie sich meine Einstellung zum Medienzentrum gewandelt hat, seit ich mich für den Ausstieg nach Ende des laufenden Semesters (01.04.1999) entschieden habe. Man könnte erwarten, dass ich das Medienzentrum als mein ‚Lebenswerk‘ ansehe und alle Hebel in Bewegung setze, dass es sich auch in den nächsten 100 Jahren so weiterentwickelt, wie ich es mir vorstelle. Weit gefehlt. Mir ist klar, dass ich nur etwas beeinflussen kann, wenn ich aktiv und vor Ort eingreife. Sobald ich die Finger davon lasse, ist es anderen Interessen unterworfen und das akzeptiere ich vollständig und ohne jedes Bedauern. Jetzt sieht es so aus, als ob die Entwicklung eher nach unten als nach oben verläuft. Auch das ist in meinen Augen normal und wenn es tatsächlich so ist, ich kann es nicht verhindern.

Ich habe von den realen Dingen hier noch einen gehörigen Abstand. Im Kopf habe ich noch die lebhaften Bilder aus dem Regenwald, der Coral Sea und dem Kakadu. Mir ist so leicht, ich bin rundum mit mir und dieser Welt zufrieden, bin meinem Body dankbar, der in so hervorragender Weise funktioniert hat und funktioniert. Es ist wirklich erstaunlich, was man mit 63 Jahren noch machen kann: Man muss es nur wollen und dann auch machen! Durch die Wärme und die Anstrengung habe ich auf dem Kakadu-Trip sicher ein paar Kilo (Bauch) abgenommen. Das ist schön. Jetzt bewege ich mich nicht mehr so heftig, habe aber einen riesigen Appetit und esse viel zu viel: Mein wunderbarer Body rüstet schon wieder für die nächste Reise auf. Wohin soll es gehen? Ich weiss es noch nicht.

Schon in Australien habe ich mich mehrfach gefragt, warum reise ich eigentlich?? Auch Arthur habe ich gefragt. Eine befriedigende Antwort habe ich bisher nicht gefunden. In einer Diskussion darüber kam mir jetzt ein guter Gedanke dazu: Faszinierend ist für mich, dass man bei solchen Reisen sich leichter und öfters bewusst wird, dass man tatsächlich existiert, dass man Teil der Natur ist, dass man lebt und dass das alles überhaupt nicht selbstverständlich ist. Es gibt dieses so treffende Wort ‚Apperzeption‘. Es ist unwahrscheinlich schwer, sich in diesen Zustand der Apperzeption zu bringen (mit Meditation schaffe ich es noch nicht). Länger als einige Minuten gelingt es mir nicht. Aber auf solchen Reisen geht es im Angesicht der faszinierenden Natur viel öfter und viel leichter. Und diese Bilder bleiben dann im Kopf und man kann sie zu Hause wieder aktivieren: Ich liege am Strand des Cape Tribulation und über mir die Milchstrasse, die Sicht von Muktinat auf die Berge des Himalaja, der Riesenmanta macht unter mir einen Looping, die Nacht auf der Terasse von Cosy, ich schwebe im unteren Pool des Jim Jim Falls ... Mit diesen Bildern im Kopf relativiert sich alles und es wird klar: Für die Natur existieren unserer kleinkarierten Probleme nicht. Alleine das ist schon Grund genug, wieder auf Reisen zu gehen.

Vielleicht sind die intensiven Bilder im Kopf auch dafür verantwortlich, dass mir die Fotos von Australien fast ausnahmslos nicht gefallen. Ich habe sie gestern abgeholt und sortiert. Sie sind einfach zu schwach, haben zuviel oder zu wenig Kontrast und falsche Farben gegenüber den kongruenten Bildern, die ich in meinem Kopf habe. Aber auch das ist sicher völlig normal. In meinem Kopf ist der gesamte Kontext und hier ist es eben nur ein Stück Papier. Einige Fotos sind auch wirklich gut, aber die kann ich an einer Hand abzählen.

Und Conny, mein bester Freund, ist auch wieder da. Gestern gegen 19 Uhr rief er an: Die Familie ist aus Tunesien komplett zurück. Es ist ihm nicht gelungen eine Internetconnection herzustellen: Ganz Tunesien weiss (noch) nichts vom Internet. Morgen sehen wir uns, Conny kommt mich gegen Abend besuchen, eine ganze Nacht lang werden wir nur von Australien schwärmen!

Und noch eine Überraschung gestern abend: Das Telefon klingelt um 20:40 Uhr und die S-Klasse-Frau, die zum Elchtest (nicht) bereit war, ruft an. Wir schwatzen angeregt bis 22 Uhr und werden uns am 29. Oktober mal treffen.

Wie das Leben so spielt: Man kann sich staunend und mit offenem Mund immer wieder nur wundern. Ein einziges, herrliches, unbegreifliches Erlebnis dieses Leben und ständig gibt es neue Überraschungen!!

 

 

 

 

 

 

 

 

FACIT AUSTRALIA

 

 

Bis nach Hause sind es jetzt nur noch vier oder fünf Stunden. Zeit für ein Facit. Das wird sehr schwer. Aber ich verzichte zum wiederholten Male auf die streng systematische, rationale Analyse und lasse einfach meine Emotionen sprechen:

 

AUSTRALIA

 

OUTBACK

 

CORAL REEF

Zwischen 8:45 und 10:45 Uhr, London Heathrow und im Flugzeug nach Berlin

 

 

 

 

 

 

 

ELCHTEST
NICHT BESTANDEN

03. November 1998, Dienstag

 

Am 02. August 1998 habe ich auf eine Anzeige geschrieben: Eine Frau, die sich mit einem der besten Autos der Welt vergleicht, ist zum Elchtest bereit. Was ist ein Elchtest für eine Superfrau ? Ich schlug ihr vor, einen Rucksack zu packen und nach Cairns, Australia zu fliegen:

 

Superfrau zum Elchtest bereit

 

 

Elchtest für AC - 4331

Kompliment – Lady, das ist ein gelungener Reklame-Gag ! Eine kreative Frau, die sich nicht in die Karten gucken lässt. Es ist schon unklar genug, was eine Klasse-Frau ist (Tucholsky hat dazu schon alles gesagt. Ich hoffe, zu dieser Sorte gehören Sie nicht ...) und jetzt noch die S-Klasse-Frau! Was ist das für eine Lady, die sich an einem Auto messen lässt? Haben Sie noch genug Profil? Wie geht es der Einspritzpumpe und wie stabil sind die Querlenker? Was heisst studiert? Wer ist heute nicht erfolgreich und sportlich? Nicht mal beim Alter wollen Sie sich festlegen. Die einzig klare Information sind die 172 cm. Aber um da wirklich sicher zu sein, werde ich nachmessen. Alles bleibt im Dunkel, aber zum Elchtest ist die Dame bereit!! Ich frage nicht nach der Definition des Elchtests für Superfrauen, ich spekuliere nicht weiter. Nur das Experiment bringt die Wahrheit (u.U. schonungslos) an den Tag.

Hier ist der Elchtest, den ich Ihnen vorschlage:

Am 31.08.1998 starte ich um 11.05 h ab TXL und fliege via London und Singapore nach Cairns. Gegen 10 Uhr übernehme ich am 02.09.1998 bei Hertz am Airport das gebuchte Auto. Dort können wir uns nicht verfehlen. Ich bin auch bereit, maximal 48 Stunden in Cairns auf Sie zu warten. Einfacher wäre es allerdings, wir treffen uns spätestens in London, da ist noch genug Zeit. Die Maschine von Qantas (Flug Nr. 100) startet erst 22:30 h. Wenn wir dann endlich im Auto sitzen (Typ C, Klimaanlage, Automatik, der Linksverkehr macht uns beiden keine Schwierigkeiten), dann liegen knappe fünf Wochen Australien vor uns: Die tropischen Inseln des Great Barrier Reefs, der Regenwald in Queensland und das endlose Outback. Eine Reiseroute gibt es nicht, am Morgen wird entschieden, ob und wohin wir fahren. Übernachtung und Verpflegung kein Problem: Für den Notfall und die sternklaren Nächte habe ich Zelt und Schlafsack mit, aber es gibt ja auch genug Ressorts, Pubs, Lodges, B&B’s ... Leider muss ich spätestens am 11. Oktober wieder in Berlin sein, Sie können ja noch ein paar Wochen länger bleiben. Der Elchtest gilt schon als bestanden (für beide!), wenn wir Lizard Island erreicht haben. Das allerdings wird nicht ganz einfach sein.

Einen Flug bekommen Sie jetzt noch problemlos, es ist keine Hochsaison. Das Reisebüro beschafft Ihnen in wenigen Tagen ein Visum. Nehmen Sie einen stabilen Rucksack mit, das ist praktisch. Ausserdem kann ich Ihnen den alten Spruch empfehlen: Weniger Gepäck, mehr Plastic-Cards. So halte ich es auch.

Zu mir ist im Stil Ihrer Anzeige nur soviel zu sagen: Anfang 60, 1,76 cm, studiert, erfolgreich, sportlich, beim Elchtest. Wenn Sie mehr wissen wollen, dann lasse ich auch mehr gucken, allerdings über das Internet unter: www.burg-halle.de/~albrecht.

Also bis dann, gegen 10 Uhr bei Hertz. Aber wie gesagt, mehr als zwei Tage warte ich nicht.

 

Das ist doch wirklich ein Elchtest, etwas Überraschendes, Unvorhergesehenes, das nicht Alltägliche. Jedenfalls stelle ich mir so etwas unter ‚Elchtest‘ vor. Vor meinem Trip nach Australien hörte ich nichts von der Superfrau. In Cairns fand sich neben meinem Super-Auto keine entsprechende Frau ein. Das hat mich nicht überrascht. Das Gegenteil hätte mich sehr verblüfft. Es wäre eine tolle Überraschung gewesen, ein faszinierendes, psychologisches Abenteuer: Was ist das für eine Frau? Wie denkt sie, wie sieht sie aus, was will sie, was will ich? Wie verläuft der erste Tag, die erste Woche, gibt es von Anfang an Krieg oder finden wir Gemeinsamkeiten, vielleicht sogar Gefallen an einander? Wie unterschiedlich reagieren wir auf den Vollmond, die Milchstrasse, den Regenwald, die Blutegel und im Zelt auf den Regen? Halten wir das fünf Wochen aus, oder geht jeder schon nach drei Tagen wieder eigene Wege? Überwinden wir es vielleicht sogar irgendwann, nicht mehr in getrennten Zelten, Zimmern und Betten zu schlafen? So viele interessante Fragen, sooo ein schönes Abenteuer!! Und vor allen Dingen völlig ungefährlich: Wo liegt hier für wen ein Risiko? Ich sehe überhaupt kein Risiko, denn keiner ist gezwungen etwas zu machen, was er nicht will.

Aber leider war es nur ein interessantes Sandkastenspiel, die Lady trat zu diesem Elchtest nicht an. Na gut, wie immer sind meine Ansprüche zu hoch, meine Ideen zu kreativ und zu ungewöhnlich. Es gibt einfach die Frauen nicht, wie ich sie mir vorstelle. Aber ich habe an dieses schöne Abenteurer im August immer mal gedacht und meiner Phantasie freien Lauf gelassen. Als ich aber dann in Cairns allein im Auto sass, habe ich den verpassten Elchtest schnell vergessen, die Reise war anregend genug.

Ich war noch keine Woche wieder zu Hause, da rief am Abend eine Frau an und stellte sich als Helga vor: Die Dame mit dem Elchtest. Wir redeten angeregt über eine Stunde am Telefon. Schliesslich verabredeten wir uns: 14 Tage später wollten wir uns mal sehen und unterhalten. Bei dem Telefongespräch hatte ich nichts über die Dame erfahren, ich hatte absichtlich nicht nach Details gefragt. Es war nur klar, dass man sich mit ihr gut unterhalten kann. Auch über den Elchtest hatten wir kaum gesprochen. Aber ich war sehr neugierig auf die Story, die sich hier entwickelte.

Wir trafen uns am 29. Oktober an der Ecke Friedrichstrasse/Unter den Linden. Wir schlenderten die Friedrichstrasse rauf, guckten mal bei Lafayette rein und gingen schliesslich beim Chinesen hier unten im Haus Abendbrot essen. Wir unterhielten uns angeregt bis Mitternacht. Dann verabschiedeten wir uns an ihrem Super-Auto. Das wird es wohl gewesen sein.

Die Superfrau ist eine 57-jährige Lehrerin. Sie war vor 30 Jahren mal eine sehr schöne, gross gewachsene, schlanke Frau. Jetzt kann man das nur noch ahnen. Sie kleidet sich billig und nachlässig und ist immer auf der Jagd nach Schnäppchen. Sie fährt einen 10 Jahre alten Golf und kein Klasse-Auto. Das ist ungewöhnlich, denn sie hat Arbeit, hat immer im Westen von Berlin gelebt, es kann ihr finanziell also nicht schlecht gehen. Sie hat zwei Kinder, war 17 Jahre verheiratet und hat danach mehrere Beziehungen gehabt. Ihr grösstes Problem ist, dass sie mit sich und ihrem Leben nicht zufrieden ist. Sie will nicht alleine sein, findet aber keinen entsprechenden Partner. Sie stürzt sich als Ersatzbefriedigung mit hohem Engagement in die Arbeit, die sie aber weder ausfüllt noch befriedigt. Sie möchte gerne souverän, emanzipiert und grosszügig sein, mehr als den Wunsch, das zu sein, bringt sie aber nicht zustande.

Das beste Beispiel ist die Anzeige: Ich frage sie, wie sie darauf kommt, sich mit einem Super-Auto zu vergleichen, obwohl sie selber gar keines besitzt. Die Antwort: ‚Das fiel mir ganz spontan ein, das war nur so eine Idee ...‘ ‚Und warum sind Sie zu meinem Elchtest nicht angetreten?‘ ‚Na, ich muss doch arbeiten, es waren doch keine Ferien ...!! Und was das kostet !! Und was hätte ich gemacht, wenn wir uns nicht vertragen hätten ??! Und, und, und ....‘ nur Bedenken. Auch als ich aufzähle, dass es überhaupt kein Risiko bei der Sache gibt, ist sie immer noch der Meinung, auf so eine wilde Sache kann eine Frau nicht eingehen. Das ist zu unwägbar, zu weit weg vom Normalen. Das ist zwar interessant und ein toller Gag, aber Frauen, die so etwas mitmachen würden, die gibt es nicht. Ja, den Eindruck habe ich auch, leider.

Ein weiteres Beispiel sind die Ansprüche an den Partner, den sie sucht: Wenn sie davon spricht, spielen die Vokabeln ‚Wahrhaftigkeit‘ (das Wort gibt es in meinem Wortschatz praktisch nicht ...) und ‚Ehrlichkeit‘ die grösste Rolle. Wieder unbegreifliche Widersprüche: Wie kann man mit einer Anzeige eine völlig falsche Fährte legen, damit aber einen ‚wahrhaftigen‘ Partner finden wollen, dem es in erster Linie um Ehrlichkeit, Geradlinigkeit und Aufrichtigkeit geht??!

Für mich ist dieser Abend ernüchternd. Wir unterhalten uns zwar intensiv, es ist auch ganz interessant und obwohl ich nur wenig sage und gucken lasse, weiss ich um Mitternacht alles von ihr. Mich fasziniert nicht die Frau, sondern diese Story: Woher kommt dieser riesenhafte Widerspruch zwischen dem Anspruch der Anzeige und der Wirklichkeit dieser Frau? Diese Frau flüchtet vor der Realität ihres Lebens und erträumt für sich eine bessere Welt. Sie ist aber weder intellektuell noch psychisch in der Lage zu erkennen, dass Träumen nicht reicht und dass man seine Situation nur durch Taten und Entscheidungen selber verändern kann. Und als es dann die (zugegeben ganz schön verrückte) Gelegenheit für einen temporären Ausbruch aus ihrer unbefriedigenden Situation gibt, erkennt sie nicht die Gunst der Stunde. Bedenken überdecken die Möglichkeit, wenigstens mal für ein paar Wochen aus einem unbefriedigenden Dasein auszusteigen.

Ausnahmsweise bin ich hier der Meinung, dass es sich bei dieser Story nicht um ein spezielles Ossi-Wessi-Problem handelt. Solche Persönlichkeitsprobleme haben mit der deutschen Nachkriegsgeschichte kaum etwas zu tun. Viel mehr werden sie verursacht von der sozialen und kommunikativen Situation in allen hoch zivilisierten Ländern: Die Medien bauen suggestive Leitbilder mit höchsten Ansprüchen an Körper und Geist auf. Auch Klein-Erna möchte diesen Vorbildern entsprechen. Das kann einfach nicht funktionieren, es scheitert schon im Ansatz und muss im Frust enden.

Wäre die Dame eine andere gewesen und wäre sie zu diesem Elchtest angetreten ... es wäre eine ganz andere Australienreise geworden. Auf der einen Seite: Schade. Auf der anderen Seite: Gott sei Dank !! Denn zum Schreiben wäre weder Zeit noch Musse gewesen. Dieses Buch ist zustande gekommen, weil ich nur mit mir unterwegs war: Eine aufregende Expedition, nicht nur durch den Norden Australiens: Fünf Wochen ein sehr intensives Leben!

 

Jürgen Albrecht
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