BACK

 

Kreuzfahrt in der Coral Sea

 

 

 

 

 

KREUZEN IM
GREAT BARRIER REEF

26. September 1998, Sonnabend

 

Kaum Wind, das Schiff liegt ruhig, die Motoren dröhnen, die Bugwelle rauscht, volle Fahrt in Richtung Norden! Wir fahren parallel zur Küste, der Abstand beträgt zwei bis drei Kilometer, deutlich sind drüben am Ufer die Lichter der kleinen Ortschaften zu sehen. Es ist 19:20 Uhr und es ist schon dunkel. Der Sonnenuntergang ist vorbei, er war nicht besonders eindrucksvoll, kein aufwendiges Farbenspiel aber interessante Wolkenfetzen treiben über den hellen, westlichen Horizont.

 

 

Wir legen in Cairns gegen 18 Uhr ab, gerade verschwindet die Sonne hinter den Bergspitzen. Mark, der Expeditionschef (28 Jahre, zwei Meter, schlank, Glatze, braun gebrannt, energisch und sehr schnell sprechend) rief eine halbe Stunde nach dem Ablegen alle Passagiere zu einem ersten Briefing zusammen: ‚All English and German this side, Asian over there !!‘ Das ist kein Rassismus. Dass wir an getrennten Tischen sitzen, hat einen einfachen Grund: Die Asiaten können kein English! Sie müssen gesondert instruiert werden, deshalb gibt es einen Vice-Manager, der Japanisch und Indonesisch spricht. Bei der ersten Instruktion geht es im wesentlichen um die örtlichen Gegebenheiten auf dem Schiff: Kojen, Toilette, Reling, Kaffee, Tee, Wasser, Küche, Bar, Vorsicht Rettungswesten, Seekrankheit. Gut gegen daraus resultierende Magenbeschwerden ist frische Luft und Sicht nach vorn über den Bug in die Weiten der Coral Sea. Also nach draussen tasten und sich an den Mast binden lassen! Das habe ich schon mal irgendwo gelesen, viele hundert Jahre ist es her. Danach erfolgt die Dive-Instruction. Papier muss unterschrieben werden, Tauchlizenzen werden kontrolliert. In der nächsten halben Stunde muss jeder sein Equipment checken und seinen Stammplatz auf dem Tauchdeck in Besitz nehmen. Bei mir ist das sehr schnell erledigt: Ich suche mir eine Brille, einen Schnorchel und ein paar Flossen mit den dazugehörigen Schuhen aus. Alles, was ich mir auswähle ist gelb und wird in einer Plastikkiste unter der Bank auf dem Tauchdeck verstaut.

 

 

24 zahlende Gäste sind auf diesem Schiff. Sicher bin ich der älteste und es sieht so aus, als ob ich auch der einzige bin, der hier nicht mit der Pressluftflasche über Bord gehen will. Es gibt noch zwei Pärchen, die auch nicht mehr die jüngsten sind, aber älter als 50 Jahre sind sie kaum. Sonst sind hier die typischen Yuppies versammelt oder solche, die es gerne sein möchten. Die Nationalitäten sind noch nicht klar. Einen Germanen gibt es auf jeden Fall, wir schlafen sogar in der gleichen Kabine Nummer fünf: Vier Männer, zwei Deutsche, ein Japaner, der kein Wort English kann und ein Mensch mit einem Igel, der kein Wort sagt und wie ein Russe aussieht. Egbert ist 26 Jahre alt und schwer enttäuscht, dass ich ihn schon bei der Begrüssung als Deutschen identifiziere. ‚So ein Mist, ich wollte doch hier richtig English lernen!‘ Wo ist das Problem? Wir vereinbaren, auf dem Schiff nur English miteinander zu reden. Auch ich finde das gut. Es ist wirklich besser, man spricht so viel wie möglich English, anders lernt man es nicht. In der Kabine hat jeder seine Koje (ca. 200 x 80 cm) und ein Fach, ca. 80 x 80 x 30 cm. Der Gang zwischen den Kojen ist 150 cm breit und eine jalousieartige Holztür ist Sichtschutz und sorgt gleichzeitig dafür, dass man hier auch noch Luft bekommt. Doppelstockbetten, ein Spiegel, die Sicherheitsinstruktionen an der Wand und die Rettungsweste unter der Koje. Das ist die spartanische Ausstattung. Ich liege in einer der unteren Kojen, denn ich war schnell, als es um die Zuweisung der Schlafplätze ging. Über mir schläft Egbert. Wenn ich nicht seekrank werden (was ich nicht hoffen will), kann man unter diesen Umständen hier locker die vier Nächte verbringen.

Die meiste Zeit hält man sich wahrscheinlich sowieso auf den beiden Decks auf: Das Taucherdeck liegt auf dem Niveau der Kombüse. Dort liegen die Kabinen der Mannschaft. Ein Deck darunter schlafen die meisten Tauchtouristen in Kabinen ohne Bullaugen. Die sind unnötig, denn sie wären unter der Wasserlinie. Das Oberdeck befindet sich über dem Tauchdeck. Vorn auf dem Oberdeck ist die Brücke und dahinter liegen die beiden Luxuskabinen mit Fenster. Auf dem Oberdeck gibt es keinen Sonnenschutz, die Sicht nach oben ist frei. Im Moment ist dort der Sternenhimmel zu sehen, morgen wird dort die Sonne ballern.

Jetzt warten hier alle auf das Abendbrot. Danach wird nicht mehr viel passieren, schnell ist Nachtruhe angesagt, denn morgen früh um 7 Uhr gibt es Frühstück und gleich anschliessend ist der erste Tauchgang angesetzt. Vier Tauchgänge pro Tag sind vorgesehen. Ich denke, ich werde mehr Schnorchelgänge machen. Es sei denn, das Schiff wechselt in den Zwischenzeiten immer den Standort, was zu befürchten ist. Zum Tauchen wird mich hier keiner überreden. Die ersten Versuche habe ich schon konsequent und deutlich abgewehrt. Die Mannschaft wird genug mit den 23 Leuten zu tun haben, die Tauchen wollen und sollen.

Ein schöner, klarer Sternenhimmel ist vom Oberdeck aus zu sehen. Die schmale Mondsichel steht auf der linken Seite (Back- oder Steuerbord ...?) wie eine helle Schüssel am Himmel und spiegelt sich im Wasser. Der Mond geht schon wieder unter, schätze ich, jetzt ist er noch ca. 35° hoch. Auf der anderen Seite der klare Jupiter. Lora glaubt nicht, das er das ist. Ich will ihr das mit meinen Sternenkarten auch nicht beweisen. Es reicht mir, wenn ich weiss, dass es mit Sicherheit der Jupiter ist. Jetzt ist er schon etwas höher als der Mond. Vom Crux sind nur die beiden Sterne des Querstrichs zu sehen. Es ist einfach zu hell. Die Milchstrasse über uns ist nur zu erkennen, wenn man sich mit den Händen Scheuklappen vor die Augen hält. Für die Milchstrasse muss es ganz dunkel sein, jedes Positionslicht an Bord stört. Immer wieder sind auch die Lichter von Flugzeugen am Himmel zu sehen. Erstaunlich, wie viele Flugzeuge jetzt noch unterwegs sind.

Smal talk ist auf dem Oberdeck angesagt. Man beschnuppert sich, versucht die Vornamen der Leute auseinander zu halten. Gleich in der ersten Stunde ist zu erkennen, wer hier in den nächsten Tagen das grosse Wort führen wird und wer sich mit wem um die ehrenvolle Positionen des Platzhirsches und der Leitkuh streiten wird. Es ist nur eine kleine Gruppe, aber trotzdem sind wieder alle Typen hier versammelt. Dazu kommen noch ca. 6 Leute von der Besatzung. Das wird ein angenehmer und interessanter Trip werden!

25.09.1998, 19:40 Uhr auf See, in der Höhe von Port Douglas

Jetzt sitze ich wieder auf dem Oberdeck, es ist 16 Uhr, die Sonne steht schon deutlich tiefer, ca. bei 45 Grad, und die Gefahr, sich zu verbrennen ist nicht mehr so gross, wie unter Mittag. Heute war der erste richtige Tauchtag. Die TAKA I, so heisst dieses Schiff, ist die ganze Nacht gefahren. Ich habe trotz des Maschinenlärms und den ständigen Schlingerbewegungen ohne Probleme geschlafen. Allerdings bin ich ein paar Mal, getrieben von meiner Neugier, nach oben gegangen und habe die nächtliche See und den Sternenhimmel bewundert. Der Mond ging gegen 22 Uhr unter: Eine gelb-rote Sichel guckte über den Bergen noch einmal kurz hinter den Wolken hervor, dann war es dunkel. Allerdings nicht dunkel genug. In der Nacht brennen zu viele Lichter auf dem Schiff. Am Strand des Cape Tribulation und im Outback ist die Sicht auf den Sternenhimmel bisher am besten gewesen. Trotzdem konnte man gestern abend auch gut das Zentrum der Milchstrasse von diesem Schiff aus sehen. Einfach phantastisch! Allerdings musste man sich dazu die Hände als Scheuklappen seitlich vor die Augen halten. Um Mitternacht hatte ich dann ein grandioses Erlebnis: Der komplette Orion über dem östlichen Horizont, der Sirius ist noch nicht in Sicht. Im Norden, tief über dem Horizont, eine Sternengruppe, die wie Cassiopeia aussieht ... Ist sie das, ist das Gilas Sternbild? Es könnte sein, denn in Europa ist Cassiopeia im Zenit zu sehen. Das kann ich hier nicht klären, ich muss es an meinem Computer untersuchen! (Gerade habe ich nachgeguckt: Der Orion steht an der beschriebenen Stelle, der Sirius ist noch nicht über dem Horizont und im Norden ist tatsächlich die Cassiopeia um diese Zeit zu sehen. Da habe ich aber Glück gehabt, denn sie steht dort nur von ca. 22 bis 4 Uhr tief über dem Horizont! AL/27.01.1999)

Um 5 Uhr stehe ich schon wieder auf. Ich gehe mich Duschen und Rasieren, jetzt sind die Toiletten (drei Toiletten für 30 Mann) noch leer. Die Sonne geht auf, viele dunkle Wolken und ein heller Horizont. Ich mache ein Foto und gehe dann aber noch einmal für eine gute Stunde in meine Koje.

Um 7 Uhr wird geweckt und es gibt ein kräftiges Frühstück (u.a. Ham and Eggs). Dann soll der erste Tauchgang über die Bühne gehen. Vor jedem Tauchgang findet ein Briefing statt: An der Wand eine Tafel mit einer Skizze: Wo sind wir, wie heisst das Riff, wie ist das Riff strukturiert, Höhenlinien, Ankerplatz der TAKA, welche Fisch- und Korallenarten sind zu sehen, Besonderheiten, Warnungen, Länge des Tauchganges. Alles sehr interessant, aber ich verstehe höchstens die Hälfte, Mark spricht zu schnell und es gibt zu viele Fachausdrücke. Aber wenn ich es nicht verstehe, ist das kein Problem, ich will ja nicht in 20 Meter Tiefe! Egbert hat es da schon schwerer, er kann höchstens so viel English wie ich, aber er ist beim Tauchen kein Anfänger.

Heute sind wir den ganzen Tag am Ribbon Reef Nr. 10. Dieses Riff liegt ca. 25 km über der Höhe von Cooktown und auch 25 km von der Küste entfernt. In der Nacht sind wir also ca. 250 km gefahren. Der erste Tauchgang findet an der Challenger Bay statt, der zweite nur ein paar hundert Meter weiter am Pinnacle. Dann ist schon Lunchtime. Es gibt Salat, Wurst, Schinken und Reis. Während wir essen, fährt das Schiff vom Südende des Ribbon Reefs zum Top, dort befindet sich Cod Hole. Diese Position erreichen wir gegen 14 Uhr. Ich habe inzwischen eine Stunde Mittagsschlaf gemacht. Um 14:30 Uhr findet der dritte Tauchgang statt. Der liegt jetzt auch hinter uns und jetzt ist erst mal Pause, Entspannung, Sonnen auf dem Oberdeck angesagt.

Ich bin von diesem Ribbon Reef bisher etwas enttäuscht. Wahrscheinlich haben wir in Tenggol das beste Korallenriffen gesehen, was es überhaupt zu sehen gibt. Dazu die Brandung, die auf dieser Insel einen Hub von 1 bis 2 Metern erzeugt hat! Ich habe den Verdacht, mein lieber Freund Stefan, wir haben in Tenggol mehr Schwein als Verstand gehabt und ein weitestgehend intaktes, von Menschen noch unberührtes Korallenriff gesehen. Auf so einer kommerziellen Tour wie dieser hier, werden Punkte im Barrier Reef angefahren, an denen schon Ankerbojen fest installiert sind. Jeden Tag legen da drei oder auch sechs Schiffe mit je 25 Tauchern an. Man braucht nicht viel Phantasie um sich vorzustellen, wie so ein Korallenriff nach ein paar Jahren dann aussieht. Und genau das ist hier zu sehen: Wüste über weite Strecken, wo kaum noch eine Koralle lebt und wo abgestorbene Korallenstöcke wie Felsbrocken auf dem sandigen Meeresgrund verstreut sind. Auch da, wo noch Fische existieren und das Riff noch intakt aussieht, sind höchstens noch 50 % der Korallen am Leben. Absolut nicht vergleichbar mit der Farbenpracht und Ruhe von Tenggol: Auch im noch lebenden Riff überall Trümmer, abgebrochene Korallen, tote Korallenstöcke, Korallenteller von 3 Meter Durchmesser, zerbrochen. Ein Jammer.

Ich hoffe nur, dass diese ‚Touristenriffe‘ zu Gunsten aller anderen Reefs des Great Barrier Reef quasi geopfert werden. Dann hätte es einen Sinn. Aber wenn die Perspektive des Great Barrier Reefs wie der Pinnacle aussieht, dann ist das hier eine ähnliche Katastrophe wie die Abholzung des Regenwaldes. Der Pinnacle ist ein viele hundert Meter hoher Turm, der in den oberen 50 Metern nur einen Durchmesser von ca. 20 Metern besitzt. In diesem oberen Bereich ist nur noch wenig von der ursprünglichen Korallenwelt übrig geblieben, die Taucher haben alles zertreten, haben eine intakte Unterwasserwelt vernichtet. In wenigen Jahren wird ausser einem nackten Kalkfelsen hier nichts mehr zu sehen sein. Am Cod Hole ankern mit uns gleichzeitig noch drei andere Touristenschiffe. Unberührte Natur und die grössten Events für alle, das schliesst sich ganz einfach aus.

Aber noch gibt es hier trotzdem wirklich faszinierende Riffe zu sehen. Wie in Tenggol ist an einigen Stellen eine ganz erstaunliche Vielfalt von Korallen und von Fischen zu beobachten. Das ist einfach großartigen! Gleich beim ersten Schnorchelgang (ich bin wirklich auf diesem Schiff der einzige, der nicht mit Pressluft taucht ...), habe ich diese herrlichen, grossen und bunten Fische hier gesehen, die sich Stefan dann mit viel Garlik bei Abdul braten liess. Sie schillern in einer ganzen Farbpalette von Rot und Blau und sind bis zu 60 cm lang. Ich glaube, sie heissen Papageienfische, wegen ihres eigenartigen ‚Schnabels‘. Und ich sehe auch gleich etwas ganz Neues: Höchstens 5 Meter unter mir, schwimmt gemächlich eine zwei Meter lange, braune Muräne. Ich konnte sie eine ganze Weile von oben beobachten, sie fühlte sich nicht durch mich gestört. Ganz irre ist das! Obwohl die Verwüstung am Pinnacle am grössten ist, gab es dort heute eine Unmenge von Fischen. Grosse Schwärme schwarzweiß quergestreifte Fische, ca. 8 cm lang. Tausende Fische, nur 4 cm lang, aber in der originalen Farbe frisch gewaschener Mohrrüben ...! Und die gleiche Sorte auch in Blau und Lila. Erst dachte ich, diese Fische ändern sogar ihre Farbe, aber soweit sind sie noch nicht! Es war die gleiche Fischart, aber eine andere Farbversion. Gemessen an der Unzahl der Fische, kann das Riff am Pinnacle nicht so kaputt sein, wie es aussieht. Denn an einem toten Korallenriff gibt es auch keine Fische mehr. Daran sieht man, dass das gesamte Ökosystem zugrunde geht, wenn man eine wesentliche Komponente vernichtet. Die wenigen grossen Bäume, die man bei der Abholzung in Malaysia verschont hat, gehen ein, weil ihr erforderliches Umfeld fehlt. Hier ist das gleiche zu beobachten.

Das Cod Hole ist besonders interessant, weil es hier richtige Schluchten gibt, 10 bis 15 Meter tief, aber nur ein bis zwei Meter breit. Unberührt muss das ein ganz herrlicher Anblick gewesen sein. Jetzt sind die Korallen stark beschädigt oder tot, aber viele Fische sind noch zwischen den Felsen zu bewundern, viele davon über 60 cm lang und grell bunt. Einen ganz grossen Fisch habe ich hier gesehen, 1,5 bis 2 Meter lang, 60 cm breit und dunkel. Ich bin ihm nachgeschwommen, aber näher als 10 bis 12 Meter liess er mich nicht kommen. Trotzdem habe ich ihn genau beobachten können, denn das Wasser war dort nur ein bis zwei Meter tief. Ein toller Anblick!

Das Tauchen erfordert sehr viel Aufwand an Equipment, Vorschriften und Sicherheit. Was gewinnt man damit: Man sieht das ganze Riff aus einer anderen Perspektive und es kommt eine neue Dimension dazu. Allerdings hat schon in wenigen Metern Tiefe das Sonnenlicht keine Wirkung mehr und alles wird ohne Lampen blau in blau. Aus meiner Sicht ist der unbestreitbare Effekt zu teuer bezahlt. Nicht nur in finanzieller Hinsicht, gerade das Risiko für die Gesundheit ist für mich ein entscheidender Nachteil und auch das Equipment, was man da (schon ohne Lampen !) mit herum schleppen muss, ist ungeheuer lästig. Also mir fehlt nichts, wenn ich nicht tauche. Im Gegenteil: Ich kann mich völlig frei bewegen und auch ohne den zweiten Mann ins Wasser springen, wann immer ich will. Die erste Tauchregel heisst nämlich: Gehe nie alleine runter! Vor dem Tauchgang muss man sich von Bord durch eine Unterschrift abmelden, kommt man wieder hoch, muss man als erstes schon wieder unterschreiben, dass man wieder da ist. Ständig sind die Flaschen wieder zu füllen und wird die Ausrüstung gecheckt. Nein Danke! Aber es ist interessant, die Taucher unter Wasser zu sehen. Das gibt schöne Bilder, denn viele und auch sehr grosse Luftblasen suchen sich ständig durch das Wasser den Weg nach oben. Daran sieht man auch, welche Mengen an Luft der Mensch in jeder Minute nötig hat, wenn er am Leben bleiben will! Die Taucher bewegen sich unter Wasser extrem langsam, um den Luftverbrauch gering zu halten. Wenig Anstrengung heisst lange Tauchzeit.

Um mich kümmert sich der Chef überhaupt nicht. Ich brauche nicht zu unterschreiben, ich kann ins Wasser springen, wann ich will. Aber wenn ich dort Probleme bekommen würde, kriegt das keiner an Bord mit. Hier ist man voll auf die Überwachung der Taucher konzentriert. Das habe ich ja schon so beim ersten Schnorchelgang am Cape Tribulation erlebt, das ist nicht neu. Ich muss also meine Kräfte und Fähigkeiten allein richtig einschätzen, muss mich vernünftig verhalten. Ich kann mich nur auf mich selber verlassen. Beim zweiten Tauchgang wollte ich das Riff neben dem Pinnacle erreichen. Der Abstand beträgt nur ca. 150 Meter – aber gegen Wind und Strömung war das Schwerstarbeit. Ich habe es schon nach 50 Metern aufgegeben. Hallo Cati: Ich denke an meine Grenzen !!

Hier kann man auch professionelle Unterwasserkameras mit Blitzlichtgerät mieten. Ein ganzes Set mit 3 Objektiven und einem Film kostet für einen Tag 100 $. Ein sehr gutes Geschäft, denn nach zwei fünftägigen Kreuzfahrten kann sich der Vermieter eine neue Kamera kaufen. Damit wollte ich eigentlich übermorgen mal ins Wasser gehen. Ich war der erste, der sich dafür angemeldet hat. Auf dem dritten Tauchgang, der gerade vorbei ist, hatte ich eine meiner Instant-Kameras mitgenommen. Erstens behindert die Kamera gewaltig beim Schwimmen und zweitens ist man immer nur auf der Jagd nach tollen Bildern und sieht nichts anderes mehr. Man geniesst nicht mehr in Ruhe den Anblick von Fischen und Korallen, man will (besser gesagt ICH will !!) nur wieder das hervorragende, in allen Details stimmige Foto! Aber genau das ist aus mehreren Gründen nicht erreichbar: Man braucht Erfahrung und Zeit, die Ausrüstung könnte noch besser sein (Licht !!), meine Kondition ist begrenzt und die weitere Dimension, die man als Diver gegenüber dem Schnorcheler hat, erweist sich hier als nützlich. Deshalb habe ich mich nach dem Test mit der kleinen Kamera entschieden, auf die Versuche mit der besseren Ausrüstung zu verzichten. Ich werde noch ein paar (bestimmt völlig unzureichende) Fotos mit meinen Instand-Kameras machen. Trotzdem bekommt man mit diesen Bildern eine Ahnung davon, was mit einem professionellen Equipment, viel Licht und Routine hier für phantastische Bilder zu machen sind. Den Vorgeschmack werde ich liefern, die Superbilder werden Stefan und Conny später fotografieren ... versprochen ?!

Gerade habe ich mich beim Skipper erkundigt und mir die Seekarte angesehen: Die Insel, die man in Richtung der Sonne jetzt sieht, ist Lizard Island !! Hurra, das Foto beweist: Der Elchtest ist zu 90 % bestanden !!

17:10 Uhr, Ribbon Reef Nr. 10, Nordspitze

 

 

Die Nightdiver sind unterwegs: Tauchen nach Sonnenuntergang mit leuchtendem Signalstab am Kopf undStablampe in der Hand. Vom Oberdeck sieht das gut aus, wenn unter Wasser die vielen Scheinwerfer ganz eigenartige Lichtspiele an die bewegte Wasseroberfläche projizieren. Ich habe es mir verkniffen, noch einmal ins Wasser zu gehen. Dreimal täglich zwischen 30 und 40 Minuten Schnorcheln reicht für einen älteren Herrn. Das Schnorcheln mit der Lampe werde ich auch mal ausprobieren. Aber gegen ein von der Sonne beschienenes Riff hat so eine kleine Handlampe keine Chance.

Heute hat mein Vater Geburtstag. Heute vor 98 Jahren wurde er geboren. 1977 ist er gestorben, das ist jetzt erst 21 Jahre her – aber was ist alles in diesen 21 Jahren passiert! Er hat, wie meine Mutter, Gott sei Dank nicht mehr mitbekommen, wie meine Familie kaputt gegangen ist. Er hat aber noch erlebt, wie ich mit Ratio-Projekt, zum Manager grosser Baustellen wurde und dann ein Jahr in Baghdad gearbeitet habe. Ich kann mich erinnern, dass wir uns zusammen die Fotos (6 x 6, schwarz/weiss) aus dem Iraq angesehen haben. Aber es ist erschreckend, wie wenig mich an meinen Vater erinnert und wie wenig ich auch zu seinen Lebzeiten von meinem Vater gewusst habe. Wir haben eigentlich nie über andere Dinge, als über die gerade anstehenden, aktuellen Probleme gesprochen. Nie habe ich mit meinem Vater über Frauen, nie über seine (schwierige ) Ehe mit meiner Mutter, nie gründlich über Politik oder existentielle, philosophische Probleme gesprochen. Das ist entsetzlich und schade. Jetzt kann ich es nicht mehr nachholen.

Als wir drei Kinder noch klein waren, bestimmte der Krieg das Geschehen. Als wir anfingen in die Schule zu gehen, da hatten die Eltern nach Flucht und Vertreibung aus Schlesien nur mit sich selber und dem Neustart nach diesem fürchterlichen Krieg zu tun. Mein Bruder Gerd war in den Wirren der Flucht in der Tschechei umgekommen. Alles, was wir in Schlesien mal besessen hatten, war verloren, die Verwandtschaft auseinandergerissen und verstreut. In dieser Situation hat nicht interessiert, ob es Probleme in der Schule gab. Wir hatten den Eindruck, damit könnte man die Eltern nicht auch noch belasten. Wir wurden auch nie gefragt, ob es etwa in der Schule Schwierigkeiten gibt. Es war klar, es war die selbstverständliche Erwartung, dass ‚die Jungens‘ in der Schule keine Probleme hatten. Wir beide, Reiner und ich waren aber gut genug, wir haben die Schule auch ohne Hilfe der Eltern überstanden. Beim Studium setzte sich das fort. Weder Vater noch Mutter haben mich in den fast sechs Jahren meines Ingenieurstudiums in Karl-Marx-Stadt, heute wieder Chemnitz, auch nur einmal besucht. Finanzielle Unterstützung gab es nicht, es war einfach kein Geld da. Auch das hat funktioniert. Man konnte 1955 von 110 Mark Stipendium in der DDR relativ gut einen ganzen Monat lang überleben. Auch wenn davon gleich 25 Mark für die Zimmermiete abging: Mein eigenes, möbliertes Zimmer, war der grösste Luxus, den ich mir geleistet habe. 80 % der Studenten wohnten im Internat. Nach vier oder fünf Jahren hatte ich es dank Leistungsstipendium und Hilfsassistentenjob auf 260 Mark monatlich gebracht. Die nächtlichen 12-Stunden-Schichten auf dem Güterbahnhof, die 15 bis 20 Mark einbrachten, nicht mitgerechnet. Das hat gereicht, ich habe von meinen Eltern kein Geld gebraucht. Meinem Bruder erging es ähnlich. Wir hätten Geld bekommen, wenn wir danach gefragt hätten, aber auch darüber wurde praktisch nicht geredet. Auch hier wurde erwartet, dass wir mit unseren Problemen alleine fertig wurden.

Aber mein Vater hat mir die Riesensumme von 17.000 Mark der DDR als Kredit gegeben, als es 1972 um den ‚Kauf‘ des Grundstücks in Spindlersfeld ging. In den damaligen Zeiten war die Ablösung der vom Vorgänger erbrachten Bauleistungen und ein unbefristeter Pachtvertrag so gut wie ein Grundbucheintrag. Kaufen konnte man das ‚Westgrundstück‘ nicht (eine der vielen unbegreiflichen Inkonsequenzen der Kommunisten). Diese Summe musste sofort und in bar gezahlt werden und wir hatten selber höchstens 10 % davon. Ich telefonierte mit meinem Vater, fragte ob er uns helfen könnte. Er kam nach Berlin gefahren, besichtigte dieses schöne Grundstück und überwies ohne zu Zucken den grössten Teil des in seinem DDR-Arbeitsleben angesparten Kapitals an meine Bank. Kaum ein Mensch hatte in dieser Zeit und in der DDR 20.000 Mark auf dem Konto. Pünktlich und zuverlässig zahlten wir jahrelang 300 Mark monatlich zurück. Als wir es geschafft hatten, wurden uns die letzte Rate und die Zinsen erlassen.

So war mein Vater: Er liebte als pflichtbewusster Buchhalter vor allen Dingen Ordnung, Genauigkeit und Verläßlichkeit. Die Probleme, die man hatte, die waren dazu da, um sie zu überwinden. Reden brauchte man darüber nicht. Was mein Vater dachte, was er von seinen Kindern und Enkeln hielt, was er für ein Leben an der Seite meiner schwierigen Mutter führte, darüber wurde nicht gesprochen und deshalb weiss ich jetzt auch nichts davon. Es ist ziemlich sicher, dass über solche Fragen auch meine Eltern nicht miteinander geredet haben. Warum ist unklar. Offensichtlich frass man vor 50 Jahren seinen Frust in sich hinein. Man suchte nicht nach einem neuen Psychologen, sonder nach einer Ersatzbefriedigung. Die fand meine Mutter beim Kochen und für meinen Vater war die Arbeit das absolut wichtigste in seinem Leben. Von dort holte er sich Anerkennung, Selbstbestätigung und Motivation. Er ging in der Arbeit auf, dort engagierte er sich weit über das übliche Mass. Er arbeitete auch noch, als er deutlich älter als 70 Jahre war, als Buchhalter in der LPG Wernigerode. Das tat er auch noch, als ihm alle mehr oder weniger deutlich klar gesagt hatten, dass er jetzt wirklich zu Hause bleiben könnte. Was aber sollte er zu Hause? Ich kann mich an kein einziges anderes Hobby als seinen Garten und das Pilzesuchen erinnern. Aber sind das Hobbys, mit denen man sein Leben ausfüllen kann?

In der SED war er nicht aus Überzeugung, als ‚guter Genosse‘ oder als gläubiger Kommunist. Er hatte keine politischen Illusionen. Nein, er war (wie ich) Opportunist. Er hatte um 1948/50 einfach erkannt, dass man in diesem neuen Deutschland besser voran kommen würde, wenn man sich mit der jetzt mächtigen ‚Arbeiterklasse‘ arrangiert. Das war schon deshalb nützlich, weil er als ‚Sonstiger‘ ( ... ein Angestellter fiel unter die Kategorie ‚Sonstige‘... ) nicht zur Arbeiterklasse gehörte, aber zwei Jungen hatte, die mal studieren sollten. Man musste im Strom mitschwimmen, sich unauffällig verhalten, sich selbst und seine Familie keiner Gefahr aussetzen. Das hatte er wohl unter Hitler gelernt. Die Agitationsmethoden der Kommunisten waren in den Anfangsjahren auch nicht gerade fein oder etwa intellektuell geprägt. Im Gegenteil, sie waren dogmatisch, radikal und aggressiv. Es war die Zeit der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die wir in Salzwedel hautnah miterlebten.

An kaum einen Urlaub kann ich mich erinnern, den meine Eltern ausserhalb von Salzwedel oder Wernigerode verbracht haben. Mein Vater hat nur eine einzige Auslandsreise mit Reiner nach Leningrad gemacht. Diese Reise, höchstens 10 Tage ungefähr im Jahr 1958, hat ihm aber so gut gefallen, dass er oft davon geschwärmt hat. Ich bin mit ihm vielleicht 1949 zu einem Urlaub nach Hiddensee gefahren. Wie immer, wollte seine Frau nicht mit. Meiner Mutter war der Haushalt und die Katze wichtiger, als alles andere im Leben. ‚Na Junge, da fahren eben wir beide an die Ostsee!‘ Es war ein schöner Badeurlaub und wir sind zusammen, aber auch getrennt, viel auf der Insel gewandert. Die Sonne hat mir ein braunes ‚Lätzchen‚ auf die Brust gebrannt, weil ich am Strand, halb eingebuddelt in den Sand, eingeschlafen war. Viel mehr weiss ich schon nicht mehr von Hiddensee.

Am meisten hat mich mein Vater beim Tod von Gerd beeindruckt: Wir waren in der Tschechei auf einem Gutshof auf dem flachen Lande interniert. Wir waren dort gerade nach Lagerhaft halb verhungert angekommen, als wir bei einem Schlachtfest endlich wieder einmal richtig essen konnten. Gerd (6) ging es danach sehr schlecht, sein ausgehungerter Magen hatte das Schlachtfest nicht verkraftet. Er kam in ein Krankenhaus und starb dort völlig unvermittelt und unter bis heute nicht geklärten Umständen. Als uns diese Nachricht erreichte, war mein Vater plötzlich verschwunden. Einen ganzen Tag war er unauffindbar. Die Mutter und wir Kinder wussten nicht wo er ist, was er macht und ob er wiederkommt. Als es dunkel wurde, kam er zurück, weinend und beide Arme voller Feldblumen. Er war wohl ziel- und ratlos durch die Felder in der Gegend um Berunice geirrt und hatte diese Unmenge von Blumen gepflückt. Aber dieses Verhalten wirft auch ein bezeichnendes Licht auf das Verhältnis zu seiner Frau, die er in dieser Extremsituation einen ganzen Tag mit den beiden Kindern allein gelassen hat ...

Was würde er heute zu meinem Leben sagen, zu meiner Arbeit? Was dazu, dass ich seinen Geburtstag jetzt mit mir und einer Tasse grünem Tee in der Kombüse eines Vergnügungsdampfers in der Coral Sea feiere ?! Das alles, was nach 1989 global und auch ganz privat unser gesamtes Leben verändert hat, war 1977 weder absehbar noch vorstellbar. Das Great Barrier Reef war für einen DDR-Bürgen so weit weg und so unerreichbar wie der Mond, von dem aus man das Great Barrier Reef angeblich deutlich sehen kann.

Wie schnell die 20 Jahre seit seiner Beerdigung vergangen sind! Und was wird in weiteren 20 Jahren sein? Was werden Conny oder Stefan für Gedanken durch den Kopf gehen, wenn ich schon 20 Jahre unter der Erde liege ....?

Draussen ist der beeindruckende Sonnenuntergang über Lizard Island vorbei und hier gibt es gleich Abendbrot. Das ist die Realität.

19:30 Uhr, Ribbon Reef Nr. 10, Nordspitze

 

 

FÜTTERUNG
DER RAUBTIERE

27. September 1998, Sonntag

 

Das war eine wilde Nacht! Ich ging gegen 21:30 Uhr in die Koje und schlief sofort ein. Gegen 23 Uhr startete das Schiff vom Ribbon Reef zum Osprey Reef. Ich wachte durch die lärmenden Motoren und starke Schiffsbewegungen auf: Hoher Seegang warf das kleine Schiff hin und her. Ich fand heraus, dass die Schlingerbewegungen meines Bettes am besten in der Seitenlage zu verkraften sind. Ich redete mir ein, dass ich mit Begeisterung auf einem galoppierenden Pferd sitze. Genau das waren die Bewegungen, die das Schiff vollführte: Es ritt in scharfem Galopp über die See und immer wieder sprang es unvermittelt über ein Hindernis. Es ist ganz erstaunlich, dass der Körper diese starken Bewegungen nach kurzer Zeit völlig ignoriert. Obwohl ich die ganze Nacht mit dem Pferd unterwegs war, habe ich hervorragend bis gegen 6 Uhr geschlafen. Ich bin zwar immer mal kurz aufgewacht aber ich habe diesen Ritt genossen. Eigentlich wollte ich in der Nacht mehrmals aufstehen, um mir das Schiff, die See und die Sterne vom Oberdeck aus ansehen. Aber ich war zu müde und schlief sofort wieder ein, obwohl meine Koje mit mir auf Schlingerkurs war.

Um 6:10 Uhr bin ich wach und da ist kein Halten mehr. Ich stehe auf, brauche aber 10 Minuten, um aus der Kajüte Nr. 5 heraus zu kommen: Das Türschloss ist defekt, die Tür ist zu und die Türklinke liegt draussen auf dem Gang! Kein Problem für einen Ingenieur. Ich öffne die Tür mit einem Trick und kämpfe mich auf dem taumelnden Schiff bis zum WC auf dem Tauchdeck vor. Dann rasiere ich mich unter Umständen, unter denen ich mich noch nie rasiert habe: Ich stehe im WC, die Tür ist offen und eingehakt, damit ich sehen kann, was auf dem Tauchdeck los ist: Brecher laufen über die Reling und über das Tauchdeck.

 

 

Stark bewegte See, Gischt sprüht mit den Brechern über das Ober- und das Tauchdeck. Sie laufen aber vom WC weg und eine 30 cm hohe Schwelle verhindert, dass ich permanent im Wasser stehe. Das Tauchdeck aber ist periodisch von diesen Brechern überspült. Ständig wechselt die Position des Fussbodens, auf dem ich stehe. Die Neigung verändert sich um mindestens 30° nach rechts, links, vorne und hinten und dazu geht es wie im Fahrstuhl ständig rauf und runter. Der Spülkasten ist in Gürtelhöhe an der Wand befestigt und Wasser schwappt aus ihm heraus, wenn das Schiff nach rechts oder links kippt ...! Ich muss mich mit allen vier Extremitäten festhalten und auch noch mit Rücken oder Bauch irgendwo abstützen, um in dem engen WC nicht hin und her geworfen zu werden. Trotzdem schaffe ich es, mich zu rasieren, zu duschen und mir die Zähne zu putzen: So eminent ist das Bedürfnis nach Reinigung und Styling!

Inzwischen geht draussen die Sonne auf. Ich taste mich schwer betrunken, wie seit der Abi-Zeit nicht mehr, nach unten und hole die Kamera. Dann kämpfe ich mich durch die Brecher wieder auf das WC und mache Fotos vom überspülten Tauchdeck. Als ich sehe, wie die Brecher über die Reling rollen wird mir auch schlagartig klar, wie gefährlich das hier ist. Wenn man hier den Halt verliert und über Bord gespült wird, dann ist die Sache erledigt. Frühestens beim Breakfast merkt man an Bord, dass einer fehlt. Bis dahin sind zwei Stunden vergangen und keiner weiss, wo man suchen soll – schon nach so kurzer Zeit ist alles zu spät, ganz abgesehen von den Sharks, die es hier mit Sicherheit gibt. Dann erwische ich auf dem Oberdeck genau den Zeitpunkt (ca. 6:05 Uhr), als die Sonne über den Horizont guckt. Wie harmlos die See von hier oben aussieht! Ich lege ich mich noch einmal eine Stunde hin und reite genüsslich in meiner Koje über die Coral Sea.

Nach dem Frühstück teilt mir der Chef mit, dass ich bei den nächsten zwei Tauchgängen nicht ins Wasser gehen darf: Es gibt hier zu viele Haie und die werden hier auch noch von den Touristenbooten angefüttert! Das macht sie aggressiv und auch wenn es in der Regel nur Weissspitzenhaie sind, ein Schnorchler muss hier mit ‚shark attacks‘ rechnen. Darauf bin ich gar nicht scharf. Also halte ich mich an die Weisung des Chiefs. Im übrigen habe ich gar keine andere Wahl.

9:00 Uhr, Osprey Reef

Die erste Tauchergruppe ist zurück. Haie und Hammerhaie wurden gesichtet. Attacken gab es nicht, alle sind heil. Die Fütterung der Raubtiere findet erst beim nächsten Tauchgang statt. Das ist sehr interessant, aber mir ist nicht so ganz klar, ob und wie diese Fütterung von statten geht und ob den Touristen dieser ‚Event‘ wirklich geboten werden muss. Das scheint mir doch recht gefährlich zu sein, denn natürlich gibt es hier nicht nur Weissspitzenhaie. In der Kombüse hängen grosse, furchterregende Schaubilder, da kann man sehen, wem man unter Wasser alles begegnen kann. Ich verzichte gerne auf einen solchen ‚Event‘. Aus einem Schaubild ist zu entnehmen, dass es im Great Barrier Reef pro Jahr ca. 100 Shark Attacks gibt. Allerdings weiter südlich, vorwiegend in den Gewässern um Sydney. Sie gehören fast nicht mehr zum Great Barrier Reef. Ähnlich gefährlich ist es nur noch an der Ostküste der USA.

Aber ich kann hier ganz in Ruhe sitzen, heute abend bekomme ich ja das Video von dieser Aktion und den anderen Höhepunkten des Tages vorgeführt. Diese Tour ist absolut professionell und routiniert organisiert. Dazu gehört auch Chris, der Video-Spezialist. Er macht Videos über und unter Wasser und er verleiht auch die Unterwasserkamera. Am Abend wird das Ergebnis seiner Arbeit gegen 20:30 Uhr in der Kombüse als Betthupferl vorgeführt. Das ist dann nicht Shark Feeding, sondern Tourist Feeding, denn natürlich will fast jeder dieses Video haben. Jeder sieht sich da auch selber wieder und die Bilder sind absolut professionell gemacht. Das gilt auch für die Vermarktung: In Cairns legen wir am letzten Tag gegen 15:30 Uhr wieder an. Noch am gleichen Abend kann man das Video kaufen! Aber wer kein Geld oder keine Zeit mehr hat, dem wird es auch nach Hause nachgeschickt. Der Preis ist noch nicht bekannt, ich schätze, er kann zwischen 100 und 150 $ liegen. Alle würden soviel bezahlen, so heiss sind sie danach.

9:20 Uhr, Osprey Reef

Die Haifütterung wird wie ein gutes Theaterstück inszeniert! Hier am ‚Nord-Horn‘ des Osprey Reefs gibt es zwanzig Meter unter Wasser eine halbkreisförmige Bucht. Alle 23 Taucher steigen ab und setzen sich in diesem Halbkreis auf die (ehemals mit Korallen bedeckten) Felsen. Ein Stahlseil, oben mit einer weissen Boje versehen, wird im Zentrum des Halbkreises an einem dort auf dem Felsen angebrachten Anker eingehakt. Ist unten alles o.k. und sind alle Taucher auf Position, zieht Mark, der die ganze Inszenierung leitet, an dem Stahlseil. Die Boje oben vermittelt dieses Signal an das Beiboot. In diesem Boot sitzen zwei Männer der Mannschaft mit den Fischköpfen, die allein zu diesem Zweck auf diesen Trip mitgenommen wurden. (Warum hat man dazu keine Fische gefangen ... nur keine unnötigen Anstrengungen ...!) Die sechs bis acht grossen Fischköpfe, jeder mehr als ein Kilo schwer, sind an einem ringförmigen Stahlseil aufgereiht.

 

 

Diese Fischköpfe werden jetzt an einer Kette befestigt, die an dem senkrecht nach unten führenden Seil läuft. Jetzt werden die Fischköpfe über Bord geworfen und sie sinken, geführt durch die Kette, an dem Seil langsam nach unten in die Arena. Die Fische in der Umgebung ‚riechen‘ das Futter sofort. Sie schwimmen in die Manege und es beginnt ein Kampf jeder gegen jeden um diese paar Fischköpfe: Es ist wie im richtigen Leben ... Die Taucher sitzen nur wenige Meter vom Schauplatz dieses Kampfes entfernt und können alles aus nächster Nähe gut beobachten. Und auch Chris der Videoman ist unten, deshalb kann auch ich dieses Schauspiel heute Abend noch bequemer betrachten als die Taucher. Wer kann sich bei solchen Bildern noch beherrschen, dieses Video nicht zu kaufen, egal, was es kostet !?! Jetzt sehe ich vom Oberdeck nur die weisse Boje, das Beiboot (jetzt ohne Fischköpfe) und die Luftblasen aus der Tiefe, die den Halbkreis markieren, in dem die Taucher da unten sitzen.

Inzwischen ist es 10:30 Uhr geworden. Es ist schönes Wetter, Sonne, Wolken, leichter Wind, das Schiff schaukelt in der leichten Dünung. Bis auf die beiden Leute im Beiboot und den asiatischen Instrukteur sind alle unten, auch der Skipper, der Koch und die Küchenhilfe. Nur noch drei Mann Besatzung und ich halten hier die Stellung. Die See ist ruhig, kein Vergleich zu der bewegten Nacht. Mich hat auf der Jagd nach Bildern (picture hunting ...) ein Shark an Bord gebissen: Ich bin auf einer Stahltreppe mit meinen Supersandalen ausgerutscht und habe mir ein paar schöne Schürfwunden am linken Schienenbein geholt.

Jetzt ist es auch schon in Deutschland Sonntag geworden, allerdings liegen noch alle in den Betten, denn es ist ca. drei Uhr nachts. Aber in 4 bis 5 Stunden öffnen die Wahllokale. Heute wird in Germany über die Regierung für die nächsten vier Jahre abgestimmt und entschieden. Schröder oder noch mal (zum fünften Mal) Kohl. Egbert, mein deutscher Kojennachbar aus Leipzig (!!), mit dem ich mich wirklich nur in English unterhalte, ist für Kohl. Mir ist jeder recht, der nicht Kohl heisst. Es muss endlich einen Wechsel in der Mannschaft geben. 16 Jahre die gleiche Theatertruppe, das ist mindestens sechs Jahre zuviel. Ändern wird sich auch mit einer neuen Regierungsmannschaft kaum etwas, schon gar nicht kurzfristig, etwa bis Weihnachten. Erstens sind die meisten Prämissen durch die Umstände fixiert und können höchstens langfristig, in Jahren, verändert werden. Der zweite Grund ist fast noch gravierender: Nicht die öffentliche Politik ist das entscheidende, sondern die Macht liegt da, wo sich das Geld befindet. Die Wahlen ändern an dieser Tatsache überhaupt nichts. Erst kommen die Strategien der Banken, die der global operierenden Konzerne und einzelner Global-Player, erst lange danach hat die Politik vielleicht ein paar Chancen, ihre kurzfristig angelegten Ziele durchzusetzen. Also, egal wie es ausgeht, mein privates Leben wird durch die heutigen Wahlen kaum tangiert. Trotzdem, ein Wechsel wäre für alle nach dem Motto gut: Neue Leute, neue Ideen.

10:55 Uhr, Osprey Reef, Nord-Horn

Only two dives today for me! Der erste um 13:30 Uhr am ‚Half Way Wall‘, der zweite ein paar Kilometer weiter, in der Mitte des Osprey Reefs: ‚The Entrance‘ heisst diese Stelle. Der letzte Schnorchelgang am Entrance war nicht sehr ergiebig. Die Korallen waren hier zu tief, ca. 5 bis 8 Meter unter mir. Da kommt keine Sonne mehr hin und deshalb sieht man auch bei klarem Wasser nicht mehr viel da unten. Ich mache Bilder von den Luftblasen der Taucher, verfolge die Taucher von oben. Das ist ganz interessant. Einen grossen Fisch habe ich sehr weit unten nur deshalb gesehen, weil er sich deutlich vom weissen Untergrund abhob. Das war schon alles. Aber ich war ca. 30 Minuten unterwegs und ich werde auch immer sicherer im Wasser mit Schnorchel, Brille und Flossen.

Der erste Schnorchelgang heute aber war der beste der ganzen bisherigen Tour! Ein Gelände, ähnlich wie in Tenggol: Einzelne grosse Korallenblöcke, 15 bis 20 Meter hoch. Dazwischen ganz schmale Schluchten (caves) und auch freie Stellen, wo man weit nach unten sehen kann. Die Reefs reichten stellenweise bis knapp einen Meter unter die Wasseroberfläche. Die ganze Landschaft war von der Sonne hervorragend beleuchtet, man konnte Wände, Überhänge und Höhlen sehen. Es gab auch hier Fische, aber nicht in solchen Schwärmen wie am Pinnacle. Aber an den flachen Stellen konnte man sehr schön einzelne, recht grosse Fische, Korallen und auch kleine Giant-Muscheln beobachten.

Der Clou aber kam, als ich schon wieder auf dem Rückweg zum Schiff war: Blaue, unendliche Tiefe unter mir. Ich sehe mich ganz intensiv um, suche Taucher in der Tiefe und bin auch sensibilisiert durch die Sharks von heute morgen ...! Aber was sehe ich ... ich traue meinen Augen nicht, überlege sofort: Flucht oder ungefährlich?? 10 bis 12 Meter unter mir tauchen aus dem tiefen Blau die gelb-weissen Umrisse eines Mantas von vorne auf !! Ein riesiges, offenes Maul mit den zwei schaufelartigen Fortsätzen, die das Wasser in das Maul leiten. Damit sieht das Maul fast kreisförmig und viel grösser und gefährlicher aus, als es in Wirklichkeit ist. Ich kann es kaum glauben, dass ich jetzt und hier das erste Mal in natura einen Manta aus nächster Nähe sehe! Beim Briefing habe ich es nicht mitbekommen, dass es hier (vielleicht !!) zu Begegnungen mit Mantas kommen könnte. Aber Mark hat es gesagt, nachträglich lese ich es an der Tafel. Während ich noch staunend dieses riesige Maul bewundere und mich frage, wie ich ihm entkomme, merke ich, dass der Manta nicht direkt auf mich zu kommt. Er macht einen vollen Looping unter mir, zeigt seine komplette Flügelspannweite (zwei Meter ?), seine gelbe Unterseite und hinten ist auch ein relativ kurzer Schwanz zu sehen. Gross, gelb, ruhig und gelassen segelt er zurück in das tiefe Blau der Coral Sea und ist nach ca. 30 Sekunden wieder völlig verschwunden.

 

 

Das war ein Erlebnis !! Und es ereignete sich nur vielleicht 10 Meter vom Schiff entfernt! Einige der Taucher, die nach mir aus dem Wasser kamen, haben den Manta auch gesehen. Man war sich einig, er hatte eine Spannweite von 2 bis 3 Metern! Dieser Manta und die faszinierenden Caves, das war bisher das erstaunlichste Erlebnis in der Coral Sea. Am Half Way Wall war auch das Wasser bisher am klarsten. Ausserdem stand die Sonne recht hoch (13:30 Uhr), das ist entscheidend für die Sichtbarkeit der Farben und die Sichtweite.

Beim Mittagessen sass zufällig Mark bei den beiden Germanen. Wir unterhielten uns über die Gefährlichkeit der Sharks. Die Schnorcheler und die Schwimmer sind deutlich mehr gefährdet als die Taucher. Haie beobachten ihre Umgebung immer von unten nach oben und identifizieren so ihre Beute. Schnorcheler und Schwimmer bewegen sich im Gegensatz zu den Tauchern an der Wasseroberfläche und sie bewegen sich auch deutlich schneller als die Taucher. Deshalb fallen sie den Haie eher auf, als die Taucher. Ausserdem sollte man unbedingt vermeiden, Haien zu nahe zu kommen, wenn sie fressen. Sie sind wegen der vielen Nahrungskonkurrenten in dieser Situation extrem aggressiv, auch die Weissspitzenhaie! Es ist sehr wichtig, über das typische Verhalten seines Gegenüber möglichst viel zu wissen. Das gilt nicht nur für Tiere.

Zwei Frauen hat es heute nacht übrigens erwischt: Sie sind seekrank. Eine Japanerin liegt kreidebleich auf dem Oberdeck und wird von ihrem Mann mit der Sumo-Figur umsorgt. Eine Dame aus Südafrika ist schon wieder auf dem Weg der Besserung.

17:45 Uhr, Osprey Reef

 

Jürgen Albrecht
Leipziger Strasse 47/16.03
D-10117 Berlin
Fax: 030 2016 5019
E-Mail: dr.albrecht@t-online.de
AL/040599

BACK